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Der letzte Engel (German Edition)

Der letzte Engel (German Edition)

Titel: Der letzte Engel (German Edition)
Autoren: Zoran Drvenkar
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länger verreist, bis auch ich irgendwann begriff, dass sie mich in dem Hotel allein gelassen hatte. Ich musste mit niemandem darüber sprechen. Ich fühlte mich verraten und verkauft und war so wütend, dass meine Mutter aufhörte, für mich zu existieren.
    Kinder können schon knallhart sein.
    An diesem Freitagabend war die Erinnerung an meine Mutter nur ein vager Fingerabdruck in meinem Gedächtnis, der mit jedem Jahr undeutlicher wurde und zu verschwinden drohte. Ich bin mir sicher, wenn mich meine Mutter in dieser Nacht hätte sehen können, wäre sie vor Schreck sofort nach Hause gekommen, denn was sich auf mich zubewegte, war der Horror einer jeden Mutter: Mein normales Leben stand kurz davor, zu kippen. Ich war sechzehn Jahre alt und der Tod kratzte an meinem Fenster.
    Die Nachricht erreichte mich kurz nach Mitternacht. Der Samstagmorgen war eben angebrochen, und ich hatte mein Fenster weit aufgerissen, aber es brachte kaum was. Draußen war es stockend schwül und die Luft stand in meinem Zimmer wie eine Wand aus getoastetem Styropor. Die einzige Brise kam aus den Lüftungsschlitzen meines PC s und damit konnte ich wirklich keine Werbung machen.
    Ich hatte den ganzen Tag am Computer gearbeitet. Kein Chat, kein Skype, keine Mails. Ich war die lebende Disziplin, denn ich musste ein Referat abschließen, und da ich mir das Wochenende nicht versauen wollte, versuchte ich, die Arbeit an einem einzigen Tag zu schaffen. Und es sah gut aus, ich kam voran. Als ich auf die Uhr schaute, war es nach Mitternacht, also pfiff ich für einen Moment auf die Disziplin und öffnete Thunderbird.
    Vier Mails warteten.
    Zwei von Lars, der jammerte, dass er alleine mit den Mädchen um die Häuser ziehen musste, eine von Rike, die jammerte, dass Lars mit Fanni und ihr um die Häuser zog und sie ihn nicht loswurden. Und dann war da noch eine Mail ohne Betreff von einem mir fremden Account. Ich las den Text. Zweimal. Danach saß ich etwas verwirrt an meinem Schreibtisch und las ihn ein drittes Mal.
    sorry für die schlechte nachricht
    aber wenn du aufwachst, wirst du tot sein
    wir wollten nur, dass du das weißt
    du bist nicht allein
    sei mutig und stark
    Ich schrieb zurück:
    sorry für die gute nachricht
    aber wenn ihr aufwacht, werdet ihr hässlich sein
    ich wollte nur, dass ihr das wisst
    ihr seid allein
    seid mutig und stark
    Nachdem ich meine Mail rausgeschickt hatte, wartete ich einige Minuten, ob eine Antwort zurückkam. Es ist ja nicht so, dass ich keinen Humor habe, aber über bestimmte Dinge sollte man einfach keine Witze machen. Kindesmissbrauch. Nationalsozialismus. Tierversuche. Und natürlich über den Tod.
    Es kam keine Antwort.
    Ich arbeitete weiter, ich wollte nicht darüber nachdenken, konnte aber dieses komische Gefühl nicht abschütteln. Was, wenn es wahr ist? Stell dir vor, du wachst auf und bist tot? Wie dämlich wäre das denn? Die Unruhe nahm zu und diese nervige Stimme in meinem Kopf ließ sich nicht ausschalten. Vielleicht wartete ein Irrer nur darauf, dass ich mich schlafen legte, damit er mit seinem Skalpell durchs Fenster klettern und mich filetieren konnte.
    Mein Licht blieb an.
    Drei weitere Stunden recherchierte ich für mein Referat, aber die Konzentration war im Keller. Dazu kam diese Hitze. Meine Hände waren klamm und der Schweiß tropfte mir von den Achseln. Es war richtig albern. Erst flog das T-Shirt in die Ecke, dann die Jeans, sodass ich zum Schluss nur in Shorts vor dem offenen Fenster stand und gierig nach Luft schnappte. Was war da draußen nur los? Ich wünschte mir, es würde stürmen. Regen, ein paar Blitze, Wind, aber nichts geschah. Der Himmel interessierte sich kein Stück für meine Nervosität, er blieb dunkel und blank, während die Paranoia mit spitzen Fingern an meinen Nerven zupfte.
    Wer auch immer mich tot sehen will, dachte ich, der soll es nicht leicht haben.
    Ich schob die Kommode vor die Zimmertür. Paranoia war in dieser Nacht mein bester Kumpel, weil mein echter bester Kumpel mit meiner großen Liebe und ihrer Freundin um die Häuser zog. Da nimmt man, was man kriegt. Wäre Lars da gewesen, hätte er gesagt: Wie kannst du so einen Scheiß nur glauben? Aber Lars war mir im Moment keine große Hilfe, und es gab auch sonst niemanden, den ich um diese Zeit hätte anrufen können. Außerdem wäre es sehr peinlich gewesen. Keine Ahnung, was dann erst für Mails in meinem Postfach gelandet wären.
    Hasenfußhat mich mein Vater als Kind genannt, als Hasenfuß noch keine
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