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Kindswut

Kindswut

Titel: Kindswut
Autoren: Jochen Senf
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KAPITEL 1
    Der Tag war zwar noch jung, aber Ludwig hatte bereits Schlagseite und Martha hatte sich, wie fast immer, bei ihm untergehakt. Das sah so locker aus. In Wahrheit stützte sie ihn, damit er sich nicht in den eigenen Beinen verfing. Ludwig galt schon lange als talentierter Lyriker, der sein Geld mit Grabreden verdiente. Böse Zungen behaupteten, nach gehaltener Rede sei er schon in manches Grab gefallen. Ludwig war dürr, hatte strähniges, dünnes blondes Haar, eine Nickelbrille und ein ständiges Kasperlelächeln um die große Nase herum. Er trug immer den gleichen, viel zu großen Regenmantel, in dem er nach dem letzten Gedicht suchte, um es den Anwesenden vorzutragen. Er fand das Gedicht nie. Er suchte es immer wieder. Mal leise in den Manteltaschen tastend, als sei das Gedicht ein scheuer Vogel, den es zu erhaschen galt, mal hektisch, als müsse er eine Haselnussmaus fangen. Martha war auffallend hübsch, biegsam und voller Grazie, und sie hatte einen Mund, der in einem fort »Küss mich!« zu flüstern schien. Sie war bedeutend jünger als Ludwig, zehn Jahre mindestens. Wie kam dieser Grabredner, der vor Trunkenheit öfters vom Stuhl fiel oder mit der Stirn vornüber unversehens auf die Tischplatte knallte, zu dieser Frau, fragte ich mich nicht zum ersten Mal. Martha war eine wunderbare, leider erfolglose Malerin, die ihre Leidenschaft in wild lodernden Farben auf großformatigen Leinwänden austobte. Leider sonst nirgends. Bis auf Ludwig. Ihre Augen waren leuchtend und türkisgrün.
    Sie standen jetzt an meinem Tisch vor dem ›Dollinger‹. Es war ein sonniger Herbstnachmittag. Die Blätter waren bunt und segelten elegant bei dem leichten Wind von den Ästen, die Spatzen tschilpten, saßen auf den Stuhllehnen und äugten nach Brotkrümeln, und ich hatte mich gerade für frischen Dorsch auf Wurzelgemüse mit Kroketten entschieden. Ludwig grinste verschwommen.
    »Wir dürfen doch?« Noch nuschelte er nicht. Ich nickte. Ludwig schaffte es, sich auf den Stuhl zu setzen. Dabei verhedderte er sich. Die Lehne des Stuhles war unter den Mantel geraten und versteifte seinen Rücken. Ludwig fuchtelte mit den Armen und grinste dabei sein Kasperlelachen, was ihm auch jetzt diesen gewissen jungenhaften Charme verlieh, der ihn für Martha so anziehend machte. Martha zog ihn am Mantelkragen wieder hoch. Dabei hingen Ludwigs Arme schlaff herunter. Sein Kopf baumelte wie der einer willenlosen Marionette. Der Mantel spannte unter den Achseln. Das Lachen zog sich immer noch von einem Ohr zum andern. Die Stuhllehne klemmte im Mantel und ließ ihn nicht los. Martha zog heftiger. Doris servierte ein Glas Grauburgunder. Das war Ludwigs Leibgetränk. Martha stellte einen Fuß auf den Stuhl, um endlich ihren Ludwig zu befreien. Ein letzter Ruck, eine letzte rudernde Bewegung von Ludwig mit den Armen, Martha hatte eine erstaunliche Kraft, das volle Glas segelte vom Tisch und Ludwig war frei. Er schwankte leicht auf dem Stuhl und suchte mit den Augen das verschwundene Weinglas. Dabei krabbelte seine linke Hand ziellos über die Tischplatte, als suchte auch sie nach dem Objekt. Ludwig lachte nach wie vor. Er hatte nicht mitbekommen, dass er das Glas vom Tisch gewischt hatte. Doris brachte ein neues. Sie kannte diese Szenen.
    »Da bist du ja.« Ludwig nahm das Glas und stürzte es mit einem Zug herunter. »Noch eins.«
    Martha wusste, was, wie so oft und immer wieder, gleich passieren würde nach einem weiteren Glas Grauburgunder. Sie nickte trotzdem, als Doris ihr einen Blick zuwarf.
    »Du musst es wissen.« Doris ging wieder.
    Ludwig hob den Kopf und lächelte mich an. »Alles bestens.« Er versuchte, sich zu erheben. »Muss mal aufs Klo.« Doris brachte ein neues Glas Wein. Ludwig wankte Richtung Toilette.
    »Ich kapier dich nicht«, sagte Doris zu Martha, als sie das Glas auf den Tisch stellte. Martha reagierte nicht. Ein Handy klingelte. Es war das von Martha. Sie erhob sich und ging ein paar Schritte weg vom Tisch, um die Unterhaltung zu führen. »Die tickt doch nicht richtig«, schnaubte Doris und ging. Ich schaute auf das volle Glas Grauburgunder. Mir war er zu sauer. Das Schaumgebirge auf meinem Cappuccino war in sich zusammengesunken. Ein schokoladenbrauner, unansehnlicher Teppich. Martha hatte ihr Gespräch beendet und setzte sich mir gegenüber. Doris erschien in der Tür. »Komm mal.« Martha verstand. Sie erhob sich und ging an mir vorbei ins ›Dollinger‹. Sie holte Ludwig von der Toilette. Allein schaffte er es
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