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Den ersten Stein

Den ersten Stein

Titel: Den ersten Stein
Autoren: Elliott Hall
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Sonntag
    »Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn hingegeben hat, damit alle, die an ihn glauben,
     nicht vergehen, sondern das ewige Leben erlangen«, sagte Bruder Isaiah aus dem Fernseher heraus zu seiner Leiche, die auf
     dem Bett darunter lag. Die Männer, die sich über den Leichnam beugten, hörten nicht hin, und falls doch, hätten sie die Worte
     als Prophezeiung und nicht als Ironie aufgefasst. Ich hielt Abstand und ließ sie schauen.
    »Es sieht so aus, als wäre er erdrosselt worden«, sagte einer der Männer und zeigte auf den blassroten Streifen um Isaiahs
     Hals. Er griff nach Isaiahs Händen, um sie sich genauer anzusehen. »Keine Kampfspuren. Unter den Fingernägeln ist nichts zu
     sehen, aber das werden wir erst genau wissen, wenn die Gerichtsmedizin eintrifft.« Der Mann – er war älter als die anderen
     und musste ihr Lieutenant sein – klang so, als hätte er früher schon einmal echte Polizeiarbeit geleistet, bevor er sich in
     seinem neuen Beruf nun damit befasste, die Saumhöhe von Frauenkleidung zu kontrollieren. Die jüngeren Männer scharten sich
     um ihn, befingerten ihre Hüte und lauschten ihm mit der respektvollen Aufmerksamkeit von Studenten auf einer Exkursion.
    Der Fernseh-Isaiah hatte alles zu bieten, was man von einem Mann Gottes erwartete. Sein kräftiges, kantiges Kinn war der sündigen
     Welt herausfordernd entgegengereckt und seinen Augen gelang das Kunststück, gleichzeitig durchdringend und mitfühlend zu blicken.
     Sein volles, elfenbeinweißes Haar ließ ihn aussehen wie einen alttestamentarischen Prophetennach einem Friseurbesuch. Der Bruder Isaiah auf dem Bett war dagegen einfach ein runzliger alter Mann in Boxershorts und schwarzen
     Strümpfen, der in einem Zimmer gestorben war, das nicht sein eigenes war.
    »Wie Sie sehen können«, fuhr der Lieutenant fort, »gibt es weder hier noch in den anderen Räumen Hinweise auf einen Kampf.«
     Das Zimmer war so nobel, wie man das von einer Luxus-Suite des Bingham Grand erwarten konnte. Der Bildschirm, von dem aus
     der Fernseh-Isaiah auf seine eigene Leiche hinunterblickte, nahm den größten Teil der Wand ein, und seine Stimme kam aus Surround-Lautsprechern.
     Das Himmelbett, auf dem die Leiche lag, erinnerte in seiner wuchtigen Art an das achtzehnte Jahrhundert, und die verknäulten
     Bettlaken waren das einzige Zeichen von Unordnung im Raum. Die Wände und Einrichtungsgegenstände bestanden aus dunkler Eiche
     mit glänzenden Messingbeschlägen, so dass jeder junge Spitzenmanager, der hier übernachtete, sich vorstellen konnte, ein mittelalterlicher
     Raubritter zu sein.
    Nicht alle Männer des Lieutenants benahmen sich angemessen. Ein paar hatten sich von der Gruppe entfernt und verunstalteten
     den Raum. Sie wühlten Schubladen durch, griffen mit bloßen Händen nach Gegenständen und schmierten überall ihre Fingerabdrücke
     hin. Einer untersuchte Isaiahs Anzüge, die im Wandschrank hingen, und wischte dabei mögliche Haare und Fasern weg, als wäre
     er der Kammerdiener des alten Herrn. Ein anderer schnüffelte im Nachttisch herum, blätterte die Gideon-Bibel durch und legte
     dann alles so zurück, wie es ihm gerade passte.
    Aus einem Nebenraum war eine Wasserspülung zu hören. Einer der Daveys hatte die Toilette eines Tatorts benutzt.
    »Herrgott«, entfuhr es mir.
    Die Köpfe fuhren zu mir herum. »Lieutenant«, fragte einer der Männer, »was macht der hier?«
    Alle starrten mich an. Ich lehnte an der Wand und lächelte freundlich.
    »Stell mal einer diesen Fernseher aus«, sagte White, als er das Schlafzimmer betrat. »Alle außer Strange raus.«
    Der Lieutenant führte seine Männer aus dem Raum. Diese verließen die berühmte Leiche nur ungern und warfen mir vorwurfsvolle
     Blicke zu.
    Es war das erste Mal, dass ich Ezekiel White aus der Nähe sah. Sein grauer Konfektionsanzug zeugte von protestantischer Bescheidenheit.
     Sein gefärbtes, schütteres Haar und der fette Schmerbauch dagegen nicht. Er hatte dünne, humorlose Lippen und eine weit geblähte
     Nase, die so breit und flach war wie der Kopf eines Hammerhais. Es war mir ein Rätsel, wie er es jemals ins Fernsehen geschafft
     hatte, selbst in die körperliche Attraktivität nicht ganz so hoch wertende Arena eines Nachrichtensenders.
    »Sie sind besser angezogen, als ich erwartet hatte«, sagte er. Ich nahm an, dass er den Fedora in meiner Hand meinte. »Ich
     werfe Erwartungen gern über den Haufen, Mr White.«
    »Dr.
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