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Der letzte Beweis

Der letzte Beweis

Titel: Der letzte Beweis
Autoren: Scott Turow
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die Zeit, als Rusty hier in der Staatsanwaltschaft durch die Gänge getigert war, mit einer grimmigen Miene, die sich hauptsächlich gegen ihn selbst zu richten schien. Brand war zweiundvierzig. Mit zweiundvierzig war man erwachsen. Alt genug, um Präsident zu werden oder diese Behörde zu leiten. Aber er war anders erwachsen als Tommy. Was für Tommy Leben war, hielt Brand für Geschichte.
    »Aber der Lieutenant meint, da ist was faul«, sagte Brand.
    Cops waren immer misstrauisch. Jeder Gute war in Wahrheit ein Böser im Schafspelz.
    »Was meint er denn, was passiert ist?«, fragte Molto. »Irgendwelche Anzeichen von Gewalteinwirkung?«
    »Na ja, sie warten noch auf den Obduktionsbericht, aber erst mal nein, kein Blut oder so. Keine sichtbaren Verletzungen.«
    »Also?«
    »Na, ich weiß nicht, Boss, aber vierundzwanzig Stunden? Da könnte man so einiges verschwinden lassen. Irgendwas im Blutkreislauf könnte sich abbauen.«
    »Zum Beispiel?«
    »Scheiße, Tom, ich denke bloß laut nach. Der Lieutenant meint jedenfalls, sie sollten der Sache nachgehen. Deshalb dachte ich, ich red mal mit dir.«
    Immer, wenn Tommy an den Prozess gegen Sabich vor zweiundzwanzig Jahren zurückdachte, klangen die wilden Gefühle von damals durch die Zeit hindurch nach. Staatsanwältin Carolyn Polhemus, eine Freundin von Tommy und eine der Frauen, nach denen er sich wie üblich verzehrt hatte, war erschlagen in ihrer Wohnung aufgefunden worden. Da der Mord mitten im hitzigen Wahlkampf um den Sessel des Oberstaatsanwalts zwischen Amtsinhaber Ray Horgan und Tommys lebenslangem Freund Nico Deila Guardia passierte, waren die Ermittlungen von Anfang an wie elektrisch aufgeladen. Ray übertrug sie seinem Ersten Staatsanwalt Rusty Sabich, der jedoch verschwieg, dass er eine heimliche Affäre mit Carolyn gehabt hatte, die zu Anfang des Jahres hässlich zu Ende gegangen war. Im Zuge seiner Arbeit an dem Fall versäumte Rusty es dann praktischerweise, eine Vielzahl von Beweismitteln zu berücksichtigen - Telefonlisten, Fingerabdruckanalysen -, die ihn eindeutig belasteten.
    Sabichs Schuld schien klar auf der Hand zu liegen, als sie nach Nicos Wahlsieg Anklage gegen ihn erhoben. Doch vor Gericht fiel ihre ganze Beweisführung in sich zusammen. Beweismittel verschwanden, und dem Polizeipathologen, der in der bei Carolyn entnommenen Spermaprobe Rustys Blutgruppe festgestellt hatte, war leider entgangen, dass sie sich die Eileiter hatte abbinden lassen, und konnte nicht erklären, warum sie obendrein ein handelsübliches Spermizid benutzt hatte. Sandy Stern leuchtete jeden Riss in der Fassade der Anklagevertretung aus und erklärte jeden Fehler - jeden fehlenden Beweis, die mögliche Kontamination der Probe - mit Tommys bewusstem Versuch, Sabich das Verbrechen in die Schuhe zu schieben. Und es funktionierte. Rusty kam frei, Nico wurde von den Wählern abberufen, und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, wurde Sabich zum kommissarischen Oberstaatsanwalt ernannt.
    Im Laufe der Jahre hatte Tommy unvoreingenommen einzuschätzen versucht, ob Rusty tatsächlich unschuldig sein könnte. Nüchtern betrachtet war das möglich. Und das war auch seine öffentliche Haltung. Tommy sprach mit niemandem, der ihn nach dem Fall fragte, ohne zu sagen: Wer weiß? Das System hat funktioniert. Der Richter wurde freigesprochen. Weiter geht's. Tommy wusste nicht, wie die Zeit ihren Anfang genommen hatte oder was mit Jimmy Hoffa passiert war oder warum die Trappers Jahr für Jahr verloren. Und er hatte keine Ahnung, wer Carolyn Polhemus getötet hatte.
    Aber im Grunde verweigerte sich sein Herz diesen vernünftigen Überlegungen. Es stand mit Ruß an die Wand geschrieben, so wie Menschen mit einer Fackel an Höhlenwände Herzen mit ihren Initialen drin malten: Sabich war es. Eine einjährige Untersuchung bewies schließlich, dass Tommy nichts von all dem getan hatte, was ihm vor Gericht raffinierterweise vorgeworfen worden war. Nicht dass Tommy keine Fehler gemacht hätte. Er hatte Nico während des Wahlkampfs vertrauliche Informationen zugespielt, aber jeder Staatsanwalt plauderte aus dem Nähkästchen. Doch Tommy hatte weder Beweise unterschlagen noch Zeugen zum Meineid angestiftet. Tommy war unschuldig, und da er wusste, dass er unschuldig war, schien es nur gleichermaßen logisch, dass Sabich schuldig war. Doch diese Wahrheit gestand er sich nur selbst ein, nicht mal Dominga, die ihn so gut wie nie nach seiner Arbeit fragte.
    »Davon lass ich lieber die Finger«,
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