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Der letzte Beweis

Der letzte Beweis

Titel: Der letzte Beweis
Autoren: Scott Turow
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Berufungsgericht ersetzen wird. Rate mal, welchen Namen Sandy am häufigsten hört.«
    »N.J. Knoll?«
    »Tommy Molto.«
    Er schmunzelt, lacht aber nicht. »Und was wird mit der Anwaltskammer? Was wird aus deiner Zulassung als Anwalt?«
    »Nichts. Ich behalte sie. Die Verurteilung wegen Justizbehinderung ist null und nichtig. Und richterliches Fehlverhalten fällt normalerweise nicht in deren Zuständigkeitsbereich.«
    »Gut, und was wirst du tun?«
    »Ich hatte ein paar Sondierungsgespräche mit dem Büro der Pflichtverteidiger oben in Skageon. Die können immer Leute gebrauchen. Ich hab mir gedacht, das wäre ganz interessant, nachdem ich so lange Ankläger und Richter war. Ich weiß nicht, ob ich auf Dauer da oben bleibe oder doch irgendwann versuche, wieder hier Fuß zu fassen. Ich werde erst mal ein oder zwei Jahre abwarten, bis Gras über die ganze Sache gewachsen ist.«
    Mein Sohn sieht mich an und denkt darüber nach. Seine Augen werden feucht.
    »Es zerreißt mir einfach das Herz, wenn ich an Mom denke. Ich meine, stell dir das doch mal vor, Dad. Sie schluckt diese Pillen und weiß, was sie sich damit antut. Und anstatt in die Notaufnahme zu fahren, nimmt sie einfach eine Schlaftablette und legt sich zum Sterben ins Bett neben dich.«
    »Ich weiß«, antworte ich.
    Nat putzt sich wieder die Nase, dann steht er auf und geht zur Tür. Ich bleibe drei Stufen über ihm stehen und schaue ihn an. Er hat die Hand schon an der Klinke.
    »Dad, nimm es mir nicht übel, aber ich glaube immer noch nicht, dass du mir alles erzählt hast.«
    Ich hebe die Hände, als wollte ich sagen: Was denn noch? Er starrt mich an, dann kommt er zurück und breitet die Arme aus. Wir klammern uns einen kurzen Moment aneinander.
    »Ich liebe dich, Nat«, sage ich dicht an seinem Ohr.
    »Ich liebe dich auch«, antwortet er.
    »Grüß Anna«, sage ich.
    Er nickt und geht. Durchs Küchenfenster beobachte ich, wie er die Einfahrt hinunter zu Annas kleinem Auto geht. Wir haben ihn mit unseren Sorgen vollgestopft, Barbara und ich. Aber er wird klarkommen. Wir haben unser Bestes getan, jeder von uns, auch wenn wir manchmal zu bemüht waren, wie viele Eltern unserer Generation.
    Aber im Laufe der Zeit habe ich mehr Fehler gemacht als nur diesen einen. Der größte von allen war wahrscheinlich vor zwanzig Jahren meine Weigerung zu akzeptieren, dass Veränderung unvermeidlich war. Anstatt mir ein neues Leben vorzustellen, heuchelte ich die Fortsetzung des alten. Und dafür habe ich weiß Gott teuer bezahlt. In dunkleren Stunden habe ich das Gefühl, dass der Preis zu hoch war, dass das Schicksal sich unmäßig an mir gerächt hat. Doch die meiste Zeit, wenn ich darüber nachdenke, wie viel schlimmer alles hätte kommen können, erkenne ich, dass ich Glück hatte. Eigentlich spielt das keine Rolle. Ich werde weitermachen. Daran habe ich nie gezweifelt.
    Meine ersten Tage in Freiheit waren nicht leicht. Ich war nicht an andere Menschen oder viele Sinnesreize gewöhnt. In Lornas Gegenwart war ich schreckhaft, und während der ersten Woche schlief ich keine Nacht durch. Aber ich kehrte zu mir selbst zurück. Das Wetter war herrlich, ein strahlender Tag nach dem anderen. Ich stand vor ihr auf, und um sie nicht zu wecken, setzte ich mich in meiner Fleecejacke nach draußen, schaute aufs Wasser und spürte die ganze Wonne des Lebens in der Gewissheit, dass ich noch immer die Chance habe, etwas Besseres für mich zu schaffen.
    Jetzt gehe ich ins Wohnzimmer, wo ein Wald von gerahmten Familienbildern die Regale füllt: meine Eltern und Barbaras, alle tot; mein Hochzeitsfoto; die Bilder von Barbara und mir mit Nat im Kinder- und Jugendalter. Ein Leben. Am längsten betrachte ich ein Porträt von Barbara, das kurz nach Nats Geburt oben in Skageon aufgenommen wurde. Sie ist ungewöhnlich schön, blickt mit einem leisen Lächeln und einem Ausdruck verträumter Heiterkeit in die Kamera.
    Ich habe viel über Barbaras letzte Stunden nachgedacht, in ähnlicher Weise wie mein Sohn, der ihren Schmerz immer so schnell nachempfinden konnte. Ich bin sicher, sie hat sich ausgemalt, wie das alles ablaufen würde. Als während des Prozesses diese Computerbotschaft auf dem Monitor erschien, fragte ich mich, ob sie in der Hoffnung gestorben war, dass es so aussehen würde, als hätte ich sie ermordet, dass sie diese Weihnachtskarte irgendwie als letzte Rache installierte. Doch heute bin ich sicher, dass Nat recht hat. Barbaras letzte Augenblicke waren zutiefst verzweifelt,
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