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Der letzte Beweis

Der letzte Beweis

Titel: Der letzte Beweis
Autoren: Scott Turow
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um etwas anderes zu finden. Du hast dich dem Menschen, mit dem du jetzt zusammen bist, über eine Kette von Erfahrungen angenähert. Das wisst ihr beide. Du kannst nicht so tun, als hätte es die Vergangenheit nicht gegeben. Aber sie ist die Vergangenheit, genau wie die Trümmer von Sodom und Gomorra hinter Lots Frau lagen, die klug genug hätte sein müssen, nicht zurückzuschauen. Jedem ist klar, dass man in diesem Alter Geschichte mit sich herumträgt, Menschen, Zeiten, deren Auswirkungen nicht gänzlich vergessen werden können. Nat hat Kat, die ihm, wie ich weiß, ab und an noch mailt, was ihn immer durcheinanderbringt. Und so wird es auch mit Rusty und meiner Geschichte mit ihm sein. Das ist mir jetzt klar. Er wird wie das verräterische Herz sein, das immer mal wieder unter den Bodendielen pocht. Doch er wird fort sein. Er wird meine gelebte Vergangenheit sein, verrückt, aber abgeschlossen, die Vergangenheit, die mich irgendwie zu dem Leben führte, das ich wirklich und wahrhaftig will und das ich Tag für Tag mit Nat leben werde.

Kapitel 45
    Rusty, 25. August 2009
     
    Ich war dreizehn Jahre alt, als mir klar wurde, dass meine Eltern körperlich nicht zusammenpassten. Ihre Ehe war traditionell arrangiert worden. Er war ein bitterarmer, bestechend gut aussehender Flüchtling, und sie war eine unscheinbare alte Jungfer - dreiundzwanzig -, aus einer Familie, der das dreistöckige Mietshaus gehörte, in dem meine Mutter bis zu ihrem Tod wohnte. Ich bin sicher, sie war zu Anfang von ihm betört, wohingegen er wahrscheinlich nie vorgab, verliebt zu sein, und mit der Zeit immer griesgrämiger wurde.
    Als ich ein Junge war, verschwand mein Vater jeden Freitagabend nach dem Essen. Ich freute mich darauf, um die Wahrheit zu sagen, weil es bedeutete, dass ich nicht eingeschlossen im Schlafzimmer meiner Mutter auf dem Boden schlafen musste, wo wir uns vor seinen häufigen Wutanfällen im Vollrausch versteckten. Als ich in die Grundschule ging, nahm ich an, mein Vater würde seine Freitagabende wie üblich in einer Kneipe oder beim Binokel verbringen, aber von diesen Zechtouren kam er nur selten nach Hause, sondern ging direkt zur Arbeit in die Bäckerei. Eines Freitagabends, ich war dreizehn, verursachte meine Mutter ein kleines Feuer in der Küche. Sie selbst erlitt den größten Schaden - sie war von Natur aus hypernervös und reizbar -, und als die Horde von Feuerwehrleuten ins Haus stürmte, konnte sie nur noch lauthals nach meinem Vater schreien.
    Als Erstes lief ich in die Stammkneipe meines Vater, wo ein Bekannter von ihm - Freunde hatte er nämlich keine - Mitleid mit mir und meiner offensichtlichen Aufregung hatte und mir, als ich schon wieder gehen wollte, sagte: »He, Kleiner. Versuchs mal im Hotel Delaney drüben auf der Western.« Als ich dem Rezeptionisten dort sagte, ich müsse unbedingt Ivan Sabich finden, bedachte er mich mit einem wässrigen, traurigen Blick, knurrte aber letzten Endes eine Zimmernummer. Das Delaney war kein Hotel, in dem es Telefon auf den Zimmern gab. Und ich glaube, als ich schon die dreckige Treppe hoch und durch Flure lief, wo der Teppich abgewetzt war und es nach irgendeinem beißenden Ungezieferbekämpfungsmittel stank, schwante mir noch immer nicht, was mich erwarten würde. Aber als ich anklopfte, erkannte ich Ruth Plynk, eine Witwe, gut zehn Jahre älter als mein Vater, die im Unterrock durch den Türspalt nach draußen spähte.
    Ich weiß nicht, warum sie die Tür öffnete. Vielleicht war mein Vater gerade auf dem Klo. Wahrscheinlich fürchtete er, der Rezeptionist wäre hochgekommen, um mehr Geld zu verlangen.
    »Richten Sie ihm aus, das Haus brennt«, sagte ich und ging. Ich wusste nicht recht, was ich empfand - Scham und Zorn. Aber vor allem Ungläubigkeit. Die Welt, meine Welt war anders geworden. Danach saß ich wutschnaubend jeden Freitagabend am Tisch, weil mein Vater während des Essens summte, das einzige Mal in der Woche, dass er irgendwelche Laute von sich gab, die auch nur halbwegs nach Musik klangen.
    Natürlich dachte ich in den verschiedenen Hotelzimmern, in denen ich mich mit Anna traf, kein einziges Mal daran, wie ich Ruth Plynk durch die geöffnete Tür angestarrt hatte. Erst als ich meinem Sohn von meiner Affäre erzählen musste, kam mir dieser Moment wieder in den Sinn, und in all den Monaten seitdem ist er immer sofort wieder da, wenn ich Nats offensichtliche Verunsicherung in meiner Gegenwart bemerke.
    Auch jetzt, wo er vor meiner Tür steht, sehe ich
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