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Der letzte Beweis

Der letzte Beweis

Titel: Der letzte Beweis
Autoren: Scott Turow
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wieder gebremst.«
    »Ich denke, es ist besser so«, sagt Rusty. »Es würde nichts bringen.«
    »Gar nichts«, sage ich.
    Ich war wieder ein paarmal bei meinem Therapeuten, aber Dennis hat keine Antwort auf die irrwitzige Oper, in die ich seit Barbaras Tod verstrickt bin, was auch daran liegt, dass er mir davon abgeraten hatte, mich überhaupt auf Nat einzulassen. Aber in einem Punkt sind Dennis und ich uns einig, nämlich darin, dass es extrem destruktiv wäre, Nat jetzt noch die Wahrheit zu sagen — nicht nur für uns, sondern auch für ihn. Das vergangene Jahr hat für ihn ohnehin schon so ziemlich alles infrage gestellt, was er in seinem Leben als selbstverständlich vorausgesetzt hat. Ich kann nicht von ihm verlangen, noch einen weiteren Preis zu zahlen, nur um mich von meiner erdrückenden Schuld zu befreien. Für mich war unsere Beziehung von Anfang an über dem Krater eines Vulkans errichtet. Ich muss diese gefährlichen Höhen allein beschreiten.
    Aber Menschen gewöhnen sich an vieles. Rusty hat sich ans Gefängnis gewöhnt, Amputierte lernen, ohne den fehlenden Körperteil zu leben. Wenn ich mit Nat zusammenbleiben kann, wird die Gegenwart die Vergangenheit überdecken. Ich kann uns beide in einem Haus sehen, mit Kindern und anstrengenden Jobs, hektisch organisierend, wer von uns rechtzeitig Feierabend machen kann, um Sohn oder Tochter vom Sport abzuholen, kann mir vorstellen, dass wir in einer gänzlich von uns geschaffenen Welt unseren Platz gefunden haben und uns innig aneinander freuen. Ich kann mir das vorstellen. Aber ich weiß nicht, wie wir von hier nach dort kommen. Ich dachte immer, wenn ich bis zum Ende des Prozesses durchhalten würde, könnten wir weitermachen, einen Tag nach dem anderen, und das glaube ich auch jetzt noch.
    »Ich werde euch zwei in Ruhe lassen«, sagt Rusty. »Ich kann nicht hier leben. Jedenfalls jetzt nicht«, sagt er. »Vielleicht kann ich irgendwann zurückkommen.« Er stockt kurz. »Darf ich dich was Persönliches fragen?«
    Sofort bekomme ich Angst, aber er fragt: »Kann ich mir irgendwelche Hoffnungen auf Enkelkinder machen?«
    Ich sehe ihn stumm an und lächele.
    »Reine Neugier«, sagt er.
    Draußen quietscht und scheppert das Garagentor. Nat ist zurück. Wir blicken beide in die Richtung. Ich stehe auf, und auch Rusty erhebt sich. Ich umarme ihn rasch, aber diesmal ist es ehrlich, mit der Aufrichtigkeit und der Zuneigung, die Menschen jemandem schuldig sind, den sie mal geliebt haben.
    Dann gehe ich zur Garage, um meinen lieben, geliebten Mann zu begrüßen. Doch ehe ich die Küche verlasse, wende ich mich noch einmal um.
    »Es gibt noch einen anderen Grund, warum ich ihn liebe«, sage ich.
    »Und der wäre?«
    »In manchen Dingen hat er viel Ähnlichkeit mit dir.«
     
    Der Camry springt an. Auf der langen Fahrt nach Norden wird sich die Batterie aufladen. Nat gibt Rusty trotzdem das Starthilfekabel mit, nur für alle Fälle, und dann stehen wir in der Einfahrt und winken. Rusty setzt langsam zurück, dann hält er wieder an, steigt aus und umarmt Nat noch einmal. Ich denke, eine der größten Schwierigkeiten in einer Beziehung ist die, damit klarzukommen, wie der Partner seine Eltern sieht. Das habe ich während meiner Ehe mit Paul gelernt - er ließ sich von seiner Mutter gängeln, ohne es zu merken - und seitdem immer wieder festgestellt. Es ist, als würde man jemandem zusehen, wie er versucht, aus einer chinesischen Fingerfalle rauszukommen. Du denkst die ganze Zeit: Nein, nach innen, drück nach innen, zieh nicht nach außen, so wird sie nur enger. Und der arme Tropf, dieser Mann, den du liebst oder hoffst zu lieben, kämpft trotzdem immer weiter. Ich freue mich für Rusty und für Nat, bin froh über diese Nacht, aber ich weiß, dass sie noch immer Ozeane zu durchqueren haben.
    Dann fahren Nat und ich nach Hause. Wenn du jemanden liebst, ist er dein Leben. Das Grundprinzip des Daseins. Und deshalb hat er die Macht, dich und alles, was du weißt, zu verändern. Als würde man eine Landkarte umdrehen, sodass Süden oben ist. Sie stimmt noch, kann dich überall hinführen, wo du hinmöchtest. Aber sie sieht völlig anders aus.
    Rein verstandesmäßig weiß ich, dass ich für Nats Vater gearbeitet habe und mal verrückt nach ihm war. Ich weiß, dass ich Rusty schon lange kannte, ehe ich Nat kennenlernte. Aber damals war Nat jemand anderes, ein Strichmännchen im Vergleich zu der Person, die heute mein Leben beherrscht, wohingegen Rustys Hauptbedeutung sich
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