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Der letzte Beweis

Der letzte Beweis

Titel: Der letzte Beweis
Autoren: Scott Turow
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zwei Monaten hat es immer wieder Momente gegeben, in denen mir fast die Luft wegblieb, wenn ich mir klarmachte, welchen monumentalen Schmerz ich ihr in der letzten Woche ihres Lebens zugefügt habe. Wieso konnte ich nicht sehen, was für sie auf dem Spiel stand, als ich mich ihrem Ehemann an den Hals warf? Wer war ich? Es ist, als versuchte ich zu verstehen, warum ich in der Highschool von einem zwölf Meter hohen Felsen in den Kindle sprang und mich fast umbrachte, weil ich nach dem Eintauchen kurz das Bewusstsein verlor. Wieso dachte ich damals, das wäre spaßig?
    Zu meiner Verteidigung kann ich nur sagen, dass ich wirklich nicht wusste, wie labil Barbara war. Rusty stellte sie immer eher als problematisch denn als verrückt dar, ungefähr so wie die Inder über die Pakistani reden oder die Griechen über die Türken, alte Feinde im Friedenszustand, mit einer unruhigen Grenze zwischen ihnen. Damals verstand ich das nur als Chance für mich, als Gelegenheit. Ich machte mir nie Gedanken über ihren Schmerz. Weil ich, wie alle Menschen, die das Falsche tun, sicher war, dass wir nie erwischt werden würden.
    Ich stelle die Beeren vor ihm auf den Tisch und reiche ihm eine Gabel.
    »Isst du keine?«, fragt er.
    »Hab keinen Hunger.« Ich lächele schwach. »Wolltest du -?«
    »Was?«
    »Mich immer noch zurückhaben, als Barbara starb?«
    »Nein. Eigentlich nicht. Nicht mehr.«
    Ich habe zig Entschuldigungen für das, was zwischen Rusty und mir war. Die Juristerei schien mir ein so wunderbarer Zielpunkt zu sein, eine Bestimmung, die ich schon lange verfolgt hatte. Ich wollte alles verstehen, alles tun. Es war, als würde ich vor einem Tempel stehen. Und ich wusste, wie viel Sehnsucht unausgesprochen in ihm ruhte. Man konnte es beinahe in ihm hören, wie das knirschende Schaben einer Trommelbremse. Naiv, wie ich war, glaubte ich fest daran, dass ich gut für ihn wäre. Ich wusste, dass ich die Glücksformel bei Männern noch nicht gefunden hatte, und das war ein weiterer Versuch. Doch letztlich benutzte ich ihn und wusste es auch. Ich wünschte mir sehnsüchtig, dass jemand wie er, jemand Bedeutendes, mich wollte, als könnte ich mir irgendwie alles aneignen, was die Welt über ihn ergossen hatte, wenn er bereit war, es für mich aufzugeben. Damals ergab das für mich Sinn. Mehr kann ich nicht sagen. Auf diese irrationale inwendige Weise, in der Herz und Verstand sich manchmal ineinander verzahnen. Damals ergab es Sinn, und jetzt ergibt es keinen Sinn mehr. Mitunter würde ich am liebsten betteln: Bring mich dahin zurück, stell mich noch mal in die Situation, damit ich ergründen kann, wer diese Frau da vor zwei Jahren war. Aber es würde nichts nützen. Ich werde mit meiner Reue leben müssen.
    »Hab ich auch nicht gedacht«, sage ich. »An dem Abend, als Nat und ich hier waren, der Abend, bevor sie starb? Da schienst du irgendwie losgelassen zu haben. Das ist noch ein Grund, warum ich nie gedacht habe, dass du sie getötet hast. Ich wusste nur nicht, wie du so schnell an diesen Punkt gekommen warst.«
    »Weil ich gemerkt habe, dass ich meinen Sohn mehr wollte, als ich dich wollte. Klingt das zu ungeschminkt?«
    »Nein.«
    »Es hat mir geholfen, die Dinge ins rechte Licht zu rücken. Was nichts daran ändert, dass die Situation furchtbar war. Und wohl auch immer noch ist.«
    Ich glaube nicht, dass er mir Vorwürfe machen will, aber ich trage genug Schuld, um mich angeklagt zu fühlen.
    »Du liebst ihn, nicht wahr?«, fragt Rusty.
    »Wahnsinnig. Über alle Maßen. Stört es dich, wenn ich das sage?«
    »Nein. Genau das will ich hören.«
    Schon allein diese kurze Äußerung über Nat lässt mein Herz aufgehen, und Tränen schießen mir in die Augen.
    »Er ist der liebenswerteste Mann der Welt. Intelligent und witzig. Aber so lieb. So sanft.« Warum habe ich so lange gebraucht, um zu erkennen, dass ich genau das brauche, jemanden, der meine Fürsorge will und sie erwidern kann?
    »Sehr viel sanfter als ich«, sagt Rusty.
    Wir wissen beide, dass das stimmt. »Er hatte nettere Eltern«, erwidere ich.
    Rusty wendet den Blick ab. »Und er hat immer noch keine Ahnung?«
    Ich zucke die Achseln. Wie können wir je wissen, was im Herzen oder im Kopf eines anderen vor sich geht? Wenn wir uns selbst ein immerwährendes Rätsel sind, besteht dann überhaupt die Chance, dass wir einen anderen Menschen gänzlich begreifen? Die Antwort ist Nein.
    »Ich glaube, nicht. Ich hab schon tausendmal angesetzt, es ihm zu sagen, mich aber immer
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