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Der letzte Beweis

Der letzte Beweis

Titel: Der letzte Beweis
Autoren: Scott Turow
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könnte eine richtungsweisende Arbeit werden.
    »Dad«, sagt er, ohne mich anzusehen. »Ich möchte, dass du mir die Wahrheit sagst.«
    »Okay«, sage ich. Ich spüre ein Stechen im Herzen.
    »Über Mom«, sagt er.
    »Sie hat Selbstmord begangen, Nat.«
    Er schließt die Augen. »Nicht die offizielle Version. Ich will wissen, was wirklich passiert ist.«
    »Genau das ist tatsächlich passiert.«
    »Dad.« Wieder lässt er diese ständige Unruhe erkennen, diesen unsteten Blick. »Dad, eines der Dinge, die ich in diesem Haus immer gehasst habe, war, dass jeder hier Geheimnisse hatte. Mom hatte ihre Geheimnisse, und du hattest deine Geheimnisse, und du und Mom, ihr hattet zusammen Geheimnisse, also musste ich auch Geheimnisse haben, und ich hab mir immer bloß gewünscht, jeder von uns würde endlich mal den Mund aufmachen. Verstehst du das?«
    Diesen Vorwurf verstehe ich vollauf und könnte ihn wahrscheinlich durch nichts entkräften.
    »Ich will wissen, was wirklich mit Mom passiert ist. Was du weißt.«
    »Nat, deine Mutter hat Selbstmord begangen. Ich mache mir nicht vor, dass mein Verhalten nichts damit zu tun hatte, aber ich habe sie nicht getötet.«
    »Dad, das weiß ich. Denkst du, das wüsste ich nicht? Aber ich bin dein Sohn. Ich kenne dich, okay? Ich habe viel nachgedacht. Und zwei Dinge weiß ich mit Sicherheit. Erstens: Du hast nach ihrem Tod nicht vierundzwanzig Stunden hier rumgesessen, um deine Trauer zu verarbeiten, weil das offen gestanden überhaupt nicht zu dir passt. Du hast deine Gefühle immer unterdrückt, als würde jemand Baumwolle in einen Vorderlader stopfen. Vielleicht explodiert später alles. Aber du machst weiter. Du machst immer weiter. Normalerweise hättest du eine Weile geweint oder um Fassung gerungen oder den Kopf geschüttelt, aber du hättest zum Telefon gegriffen. Du hast hier gesessen und über irgendwas nachgedacht. Da bin ich mir absolut sicher. Und zweitens: Ich hab dich beobachtet, als du dich wegen Justizbehinderung schuldig bekannt hast. Und da warst du ruhig und abgeklärt. Du hast mit tiefster Überzeugung gesagt, du wärst schuldig. Ich weiß, dass du den Computer nicht manipuliert hast - das hast du ja auch zu Anna gesagt -, daher musst du dich für irgendwas schuldig bekannt haben, das du vor langer Zeit getan hast. Und ich behaupte, es hängt direkt mit Moms Tod zusammen. Hab ich recht?«
    Kluger Junge. Der Sohn seiner Mutter. Schon immer ein sehr, sehr kluger Junge. Ich bringe ein schwaches, leicht stolzes Lächeln zustande und nicke.
    »Also«, sagt er. »Ich will jetzt alles wissen.«
    »Nat, deine Mutter war deine Mutter. Was ich für sie war oder sie für mich, ändert nichts daran. Ich habe nicht versucht, dich wie ein Kind zu behandeln. Glaub mir, ich habe mich selbst gefragt, ob ich die Dinge, die ich dir nicht erzählt habe, würde wissen wollen, und ehrlich gesagt, ich würde sie nicht wissen wollen. Bitte nimm dir einen Moment Zeit und denk darüber nach.«
    Auf niemanden wird Nat je so wütend wie auf mich. Wut auf seine Mutter war zu gefährlich. Ich bin als Ziel weniger riskant, und die Art, wie ich mich ihm seiner Meinung nach immer entzogen habe, oder es zumindest versucht habe, erzürnt ihn. Doch der Groll, der sein Gesicht verschließt, der seine blauen Augen verdunkelt, ist natürlich Barbaras.
    »Okay«, sage ich. »Okay. Die Wahrheit ist, deine Mutter hat sich selbst getötet. Und ich wollte nicht, dass du und andere es erfahren. Ich wollte nicht, dass du damit leben musst, dass du die Last tragen musst, die Kinder von Selbstmördern unweigerlich mit sich rumschleppen. Und ich wollte nicht, dass du nach dem Warum fragst. Oder erfährst, womit ich sie zu dem Schritt getrieben hatte.«
    »Die Affäre?«
    »Die Affäre.«
    »Okay. Aber wie ist sie gestorben?«
    Ich hebe eine Hand. »Ich erzähl's dir. Ich erzähl dir alles.« Ich hole tief Luft. Mit meinen zweiundsechzig Jahren habe ich noch immer die Empfindlichkeiten des Kindes mit dem serbischen Vater, das in der Schule nie beliebt war. Ich war clever, und schon als kleiner Junge legte man sich auf dem Schulhof besser nicht mit mir an - ich konnte brutal werden, wenn ich mich provoziert fühlte. Aber ich war nicht beliebt - niemand traf sich am Wochenende mit mir, niemand lud mich zum Geburtstag ein oder alberte mit mir in der Pause herum. Ich war allein und fürchtete mich davor, was diese Isolation über mich aussagte. Obgleich ich immer nur in Kindle County gelebt habe, hier die Grundschule
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