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Der letzte Beweis

Der letzte Beweis

Titel: Der letzte Beweis
Autoren: Scott Turow
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hier und dem Bezirksgebäude auf der anderen Straßenseite, ein fades Beispiel öffentlicher Architektur, hat sich vor allem als Kundgebungsort für Demonstrationen bewährt.
    Ich bin auf dem Weg zu meinem Treffen mit Raymond, um seine Neuigkeiten für meinen Wahlkampf zu erfahren, und höchstens sechzig Meter vom Justizgebäude entfernt, als ich meinen Namen höre und mich umdrehe. Hinter mir steht John Harnason, der jetzt einen flachen Strohhut trägt, unter dem sein rötliches Haar ein bisschen wie bei Bozo dem Clown vom Kopf absteht. Ich spüre sofort, dass er mir aufgelauert hat.
    »Und? Wie sieht's für mich aus, wenn ich fragen darf, Euer Ehren?«
    »Mr Harnason, wie beide sollten nicht miteinander reden, solange Ihr Fall noch verhandelt wird.« Kein Richter darf mit einer Seite in Abwesenheit der Gegenseite reden.
    Harnason hebt einen dicklichen Finger mit überlangem Nagel an die Lippen. »Dann kein Wort darüber, Euer Ehren. Ich wollte mich nur den Geburtstagsglückwünschen anschließen und mich persönlich für meine Kaution bedanken. Mel hat gesagt, ein Richter, der mir Kaution gewährt, müsste die Brust voller Orden haben. Was nicht heißen soll, dass ich keinen Anspruch drauf hätte. Aber er meinte, wer einen verurteilten Mörder frei rumlaufen lässt, bekleckert sich nicht gerade mit Ruhm. Aber Sie wissen ja selbst ganz gut, wie man sich in so einer Lage fühlt.«
    Dank jahrelangem Training zeige ich keinerlei Reaktion. In dieser Phase meines Lebens können Monate vergehen, ohne dass irgendwer eine Anspielung macht auf die Anklage oder den Prozess gegen mich vor einundzwanzig Jahren. Stattdessen will ich mich abwenden, doch Harnason hebt eine Hand mit diesen befremdlich langen Fingernägeln.
    »Ich muss gestehen, ich war neugierig, ob Sie sich noch an mich erinnern, Euer Ehren. Wir sind uns ja schon früher mal begegnet.«
    »Tatsächlich?«
    »Ich war mal Anwalt, Euer Ehren. Lange her. Bis Sie mich angeklagt haben.«
    Alles in allem war ich fast fünfzehn Jahre bei der Staatsanwaltschaft, zwölf als Staatsanwalt und zwei, wie Tommy Molto, als vom Gericht ernannter kommissarischer Oberstaatsanwalt. Schon damals hätte ich mich unmöglich an jeden Fall erinnern können, den ich bearbeitet hatte, und mittlerweile ist das hoffnungslos. Aber wir haben damals nur sehr wenige Anwälte angeklagt. Auch Priester, Ärzte und Manager wurden von uns kaum juristisch verfolgt. Bestrafung war in jener Zeit meistens armen Leuten vorbehalten.
    »Ich wurde nicht John genannt«, sagt er. »Das war mein Dad. Ich lief unter J. Robert.«
    »J. Robert Harnason«, sage ich. Der Name ist eine Zauberformel, und ich stoße einen leisen Laut aus. Kein Wunder, dass Harnason mir heute Morgen im Gerichtssaal irgendwie bekannt vorgekommen war.
    »Ah, jetzt wissen Sie also, wo Sie mich hintun sollen.« Er scheint erfreut, dass er mir so rasch wieder eingefallen ist, doch ich kann mir nicht vorstellen, dass er irgendetwas anderes empfindet als Groll. Harnason war ein schmieriger kleiner Anwalt gewesen, der sich eher schlecht als recht über Wasser hielt und schließlich auf eine altbekannte Strategie zurückgriff, um seine Lebensumstände zu verbessern. Er übernahm Schadensersatzklagen, und anstatt die seinen Mandanten zustehenden Anteile der Entschädigungssummen auszuzahlen, behielt er sie so lange wie möglich ein. Erst wenn ein empörter Mandant ihn mehrfach aufgefordert hatte, bezahlte er, und zwar mit dem Geld, das er bereits wieder dem nächsten Mandanten schuldete. Hunderte andere Anwälte in den Tri-Cities begingen Jahr für Jahr dieselbe große Sünde, sich aus Geldern zu bedienen, die ihren Mandanten zustanden, um die Miete oder die Steuern oder das Schulgeld für ihre Kinder bezahlen zu können. Die schlimmsten Fälle führten zum Ausschluss aus der Anwaltskammer, und auch Harnason wäre vermutlich damit davongekommen, wäre da nicht noch etwas anderes gewesen: Als Stammgast in der schwulen Halbwelt jener Jahre, in Bars, wo die Polizei regelmäßig Razzien durchrührte und die Gäste verhaftete, war er mehrfach wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses festgenommen worden.
    Sein Anwalt Thorsen Skoglund, ein wortkarger Finne, der längst nicht mehr unter den Lebenden weilt, nahm kein Blatt vor den Mund, als er mich aufsuchte, um meine Entscheidung anzufechten, Harnason wegen einer Straftat anzuklagen.
    »Sie bringen ihn vor Gericht, weil er schwul ist.«
    »Na und?«, antwortete ich. Ich muss oft an dieses Gespräch
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