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Ich träume deutsch

Ich träume deutsch

Titel: Ich träume deutsch
Autoren: Nilgün Tasman
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|5| MEINE GROSSMUTTER KONNTE NICHT LESEN, aber sie nahm immer wieder eines ihrer Bücher in die Hand und blätterte es Seite für Seite durch. Es waren die Bücher meines Großvaters, die meine Babaanne in einer Holztruhe sorgfältig aufbewahrte.
    „Kinder, in jedem Buch stecken nicht nur Geschichten, sondern auch Menschen. Menschen, die uns an der Hand nehmen und durch das Leben begleiten. Menschen, die wir ins Herz schließen, die wir lieben, hassen oder die wir uns zum Vorbild nehmen. Menschen, von denen wir viel lernen können.“
    Meine Schwester fragte dann immer: „Babaanne, du kannst doch gar nicht lesen, warum blätterst du das Buch durch?“
    „Allah sei gnädig, mein Kind, man hat mir das Lesen nie beigebracht. Aber ein Buch erinnert mich an die Geschichten, die mir unser Vater immer vorgelesen hat. Bücher werden von Menschen geschrieben, die viel Tinte geleckt haben. Wenn ich die Buchstaben berühre, dann habe ich das Gefühl, als würde ich auf Reisen gehen“, sagte sie und wiegte sich dabei hin und her wie eine Zypresse im Wind.
    Babaanne hatte ihr Dorf in Anatolien noch nie verlassen und sie war auch nirgendwo gemeldet. Eigentlich gab es meine Babaanne gar nicht, bis mein Vater auf die Welt kam. Erst mit seiner Geburt wurde auch sie registriert.
    „Wenn ihr groß seid und in einer großen Stadt lebt, müsst ihr dort unbedingt in die Schule gehen, damit ihr so klug werdet, wie es einst mein Vater war. Nur Menschen, die in ihrem Leben Tinte geleckt haben, sind kluge Menschen“, sagte Babaanne zu meiner Schwester und zu mir.
    Mein Urgroßvater war ein belesener Mann, der leider sehr früh starb. Er hinterließ meiner Urgroßmutter und den |6| neun Kindern viel Land und das Haus. Meine Großmutter war mit nur neun Jahren die Älteste. Sie musste ihrer Mutter helfen und konnte keine Schule besuchen. Aber von meiner Babaanne erzähle ich Ihnen später mehr, wenn ich Ihnen von der Zeit berichten werde, die meine Schwester Mine und ich bei ihr in Anatolien verbrachten.
     
    Ich hoffe, dass Sie die kleine Nilgün ein Stück auf ihrem Weg ins Leben begleiten werden. Zu Beginn ihrer Erzählungen ist sie fünf Jahre alt und wird Sie an den Erfahrungen und Erlebnissen ihrer Kindheit in einer schwäbischen Kleinstadt und bei der Großmutter in der Türkei teilhaben lassen.
    Als ich über meine Kindheit zu schreiben begann, hatte ich das Gefühl, diese Zeit noch einmal zu erleben. So waren auch die Worte auf meiner Zunge die eines kleinen Mädchens. Doch am Ende der Erinnerungen wird Nilgün zu einer Erkenntnis kommen, die sie glücklich und erwachsen macht.

|7|
Zwei Jahre Deutschland
    1968 stand in den türkischen Zeitungen, dass in Süddeutschland Gastarbeiter gesucht werden. Mein Vater, der als Schreiner auf der Werft in Istanbul arbeitete, bewarb sich, ohne meine Mutter zu fragen, und bekam nach einer gründlichen Untersuchung sofort die Zusage für eine Einreisegenehmigung. Ein Freund, der sich mit ihm beworben hatte, wurde wegen seiner schwarzen Zähne abgelehnt. Man musste kerngesund sein, um eine Einreisegenehmigung nach Deutschland zu erhalten.
    Meine Mutter war von der Idee, nach Deutschland zu gehen, gar nicht begeistert.
    „Wir wissen nicht mal, wie man Deutschland schreibt, wie sollen wir da klarkommen?“, fragte sie und wollte nicht von Istanbul weg.
    Meine Eltern wohnten damals in einer kleinen Zweizimmerwohnung mitten in der Stadt. Meine Schwester war vier Jahre alt und ich gerade mal sechs Monate.
    „Wir waren arm, aber glücklich. Wir hatten türkische Erde unter den Füßen“, sagte meine Mutter später immer.
    Baba versprach Annem, höchstens zwei Jahre in Deutschland zu bleiben. Nur, bis wir genügend Geld für ein eigenes Haus gespart hätten.
    So machten wir unsere erste große Reise mit dem Zug. Die Beamten am Zoll in Deutschland müssen sehr nett gewesen sein. Sie lachten, weil bei den meisten Türken im Reisepass als Geburtsdatum der 1.   Januar eingetragen war. Viele Türken wurden, wie meine Babaanne, erst Jahre später registriert, und die meisten Eltern wussten dann nicht mehr, wann ihre Kinder geboren waren. Also gab man entweder |8| den 1.   Januar oder den 15.   August an. Bei meinem Baba stand der 15.   August und bei meiner Anne der 1.   Januar im Pass.
    Wir wurden mit noch fünfzehn weiteren Türken am Bahnhof in Stuttgart von zwei Männern in Empfang genommen, die ein Schild mit der Aufschrift „Karl Kübler“ hoch hielten. Das war der Name der Firma, in der
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