Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der letzte Beweis

Der letzte Beweis

Titel: Der letzte Beweis
Autoren: Scott Turow
Vom Netzwerk:
denken - wenn auch nicht an den Mann, um den es ging -, denn noch während ich das sagte, war mir, als würde eine Hand dicht an meinem Herzen anfangen zu winken, um auf sich aufmerksam zu machen. Eine der härtesten Wahrheiten der Ämter, die ich bekleidet habe, als Staatsanwalt und als Richter, ist die, dass ich im Namen des Gesetzes vieles getan habe, was die Geschichte - und ich - mittlerweile bedauern.
    »Sie haben mein Leben verändert, Euer Ehren.« Sein Tonfall ist nicht unfreundlich, aber in der Zeit damals hatten es Schwule im Gefängnis schwer. Sehr schwer. Meiner Erinnerung nach war er ein gut aussehender junger Mann mit etwas weichen Gesichtszügen, nach hinten gegeltem kastanienbraunem Haar, nervös, aber entschieden selbstbeherrschter als der Spinner, der mir jetzt gegenübersteht.
    »Das hört sich für mich nicht nach einem Dankeschön an, Mr Harnason.«
    »Nein. Nein, damals hätte ich mich auch nicht bei Ihnen bedankt. Aber offen gestanden, Euer Ehren, ich bin Realist. Ehrlich. Noch vor zwanzig Jahren hätte die Sache nämlich ganz anders aussehen können. Ich hab mich zweimal bei der Staatsanwaltschaft beworben und wäre beinahe genommen worden. Ich hätte der Ankläger sein können, der versucht, Sie in den Knast zu schicken, weil Sie mit jemand Bestimmtem geschlafen hatten. Deshalb hat man Ihnen doch den Prozess gemacht, nicht? Wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, gab es nämlich nicht viele Beweise, außer dass Sie Ihre Finger nicht bei sich behalten konnten.«
    Er hat größtenteils recht. Und ich verstehe, was Harnason mir sagen will: Er ist untergegangen, ich habe überlebt. Und zumindest für ihn ist schwer nachvollziehbar, wieso.
    »Diese Unterhaltung ist unergiebig, Mr Harnason. Und unangemessen.« Ich wende mich ab, doch er greift erneut nach mir.
    »Nichts für ungut, Richter. Wollte bloß kurz Hallo sagen. Sie hatten mein Leben zweimal in der Hand, Euer Ehren. Diesmal waren Sie besser zu mir als beim ersten Mal, wenigstens bis jetzt.« Er lächelt ein wenig bei der Einschränkung, doch mit diesem Gedanken wird seine Miene ernster. »Hab ich wenigstens eine Chance, Euer Ehren?« Als er diese Frage ausspricht, wirkt er so hemmungslos kläglich wie ein Waisenkind.
    »John«, sage ich und bremse mich dann. >John    »Dann gibt es also noch Hoffnung?«
    Ich schüttele den Kopf, um >genug jetzt< zu signalisieren, aber er dankt mir dennoch und vollführt unterwürfig eine leichte Verbeugung. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, ruft er mir nach, als ich ihm den Rücken zuwende. Ich gehe davon. Völlig verstört.
    Als ich nach einem leicht beunruhigenden Wahlkampftreffen mit Raymond ins Justizgebäude zurückkehre, ist es nach fünf Uhr, die Geisterstunde der Beamten, nach der sie alle verschwinden wie von einem Riesenstaubsauger verschluckt. Von allen Referendaren, die ich je hatte, ist Anna mit Abstand die fleißigste, und wie so oft ist sie noch da und arbeitet allein vor sich hin. Barfuß kommt sie hinter mir her in mein Amtszimmer, wo Reihen von ledergebundenen Gesetzesbüchern, die im Computerzeitalter praktisch nur noch schmückende Funktion haben, zusammen mit Fotos und Souvenirs an Familie und Karriere in den Regalen ruhen.
    »Bereiten Sie sich auf den Abschied vor?«, frage ich sie. Freitag werden wir Annas letzten Arbeitstag bei mir mit einem Dinner zu ihren Ehren feiern, wie ich das bei all meinen Referendaren mache, wenn sie mich verlassen. Am Montag darauf wird sie in der Prozessabteilung von Ray Horgans Anwaltskanzlei anfangen. Sie wird ein Gehalt bekommen, das höher ist als meins, und den viel zu lange aufgeschobenen Einstieg ins wahre Leben vollziehen. In den letzten zwölf Jahren war sie Rettungssanitäterin, Werbetexterin, Studentin der Wirtschaftswissenschaften, Mitarbeiterin einer Marketingabteilung und jetzt schließlich Anwältin. Wie Nat gehört Anna einer Generation an, die aufgrund ihres gnadenlosen Sinns für Ironie oft wie festgefroren wirkt. Praktisch alles, woran Menschen glauben, kann als
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher