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Der letzte Beweis

Der letzte Beweis

Titel: Der letzte Beweis
Autoren: Scott Turow
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lächerlich widersprüchlich entlarvt werden. Und so lachen sie. Und treten auf der Stelle.
    »Irgendwie schon«, sagt sie, und dann hellt sich ihre Miene auf. »Ich hab noch eine Geburtstagskarte.«
    »Aber Sie haben doch schon so viel gemacht«, antworte ich, und nehme den Umschlag trotzdem an.
    »Du bist SECHZIG«, steht da über dem Bild einer sexy Blondine in knallengem Pullover. »Zu alt, um noch Dummheiten zu machen.« Umseitig: »Oder davor zurückzuschrecken.« Die Karte empfiehlt noch: »Genieß, was Du kannst!« Darunter hat sie geschrieben: »Alles Liebe, Anna.«
    Ach, wenn es doch nur so einfach wäre. Bilde ich mir das ein, oder hat das Busenwunder auf der Karte sogar eine schwache Ähnlichkeit mit Anna?
    »Hübsch«, sage ich.
    »Die passte einfach zu gut«, antwortet sie. »Da konnte ich nicht widerstehen.«
    Ich sage nichts, während wir uns eine Sekunde lang anstarren.
    »Na los«, sage ich schließlich. »Die Arbeit wartet.« Sie ist nun mal leider sehr hübsch, grüne Augen und aschblondes Haar, rote Wangen, dralle Figur. Keine klassische Schönheit, aber sie sieht gut aus und verströmt einen natürlichen Reiz. Sie tänzelt in ihrem glatten Rock mit einem leicht betonten Hüftschwung ihres breiten, aber hübsch gerundeten Pos davon und schaut noch einmal über die Schulter, um die Wirkung zu taxieren. Ich wedele mit der Hand, dass sie weitergehen soll.
    Anna arbeitet nun seit fast zweieinhalb Jahren für mich, länger als alle Referendare, die ich je hatte. Sie ist eine gewiefte Anwältin mit einem ausgeprägten Talent für diesen Beruf, und sie hat außerdem ein sonniges, begeisterungsfähiges Gemüt. Sie ist fast jedem gegenüber aufgeschlossen und oft umwerfend komisch, was niemanden mehr erfreut als sie selbst. Und sie ist noch dazu unermüdlich hilfsbereit. Da sie mehr von Computern versteht als selbst die meisten in unserer IT-Abteilung, opfert sie ständig ihre Mittagpause, um Probleme in anderen Büros zu lösen. Sie backt für meine Mitarbeiter, behält sämtliche Geburtstage im Kopf und kennt die Familienverhältnisse sämtlicher Kollegen. Anders ausgedrückt, sie ist ein Mensch, der sich mit anderen Menschen beschäftigt, und alle im Haus lieben sie.
    Aber das Leben der anderen macht sie glücklicher als ihr eigenes. Vor allem die Liebe macht ihr zu schaffen. Sie ist voller Sehnsucht und Verzweiflung. Sie hat bergeweise Selbsthilfebücher mit ins Büro geschleppt, die sie oft mit meiner Gerichtsdienerin Joyce tauscht. Liebe den Menschen, der du sein willst. Hör auf dein Herz. Wenn sie in der Mittagspause liest, kann man förmlich sehen, wie ihre heitere Fassade abblättert.
    Annas lange Beschäftigung bei mir, die noch verlängert wurde, als ihre Nachfolgerin Kumari, die ich bereits eingestellt hatte, unerwartet schwanger wurde und absolute Bettruhe brauchte, hat unweigerlich zu einer gewissen Vertrautheit geführt. Wenn wir an manchen Abenden der Woche zusammen arbeiten, um Verwaltungsverordnungen vom Tisch zu bekommen, nutzt sie das für freimütige Beichten, bei denen es sich häufig um ihr Pech in Liebesdingen dreht.
    »Ich hab so einige Kurzzeitbeziehungen gehabt und versucht, nichts richtig ernst zu nehmen, damit ich mir keine zu großen Hoffnungen mache«, erzählte sie mir einmal. »Und in gewisser Weise hat das auch geklappt. Jetzt hab ich überhaupt keine Hoffnungen mehr.« Sie lächelte, wie sie das immer tut, um die Verbitterung mit Humor zu überspielen. »Wissen Sie, mit zweiundzwanzig war ich mal eine Nanosekunde lang verheiratet, und als das vorbei war, hatte ich überhaupt keine Angst davor, nie den Richtigen zu finden. Ich dachte damals, ich wäre zu jung. Aber die Männer sind es immer noch! Ich bin vierunddreißig. Der letzte Mann, mit dem ich was hatte, war vierzig. Und der war ein Kind. Ein Baby! Der konnte noch nicht mal seine schmutzige Wäsche vom Boden aufsammeln. Ich brauche einen Mann, einen Erwachsenen.«
    All das klang recht harmlos, bis mich vor einigen Monaten das Gefühl beschlich, dass es sich bei dem Erwachsenen, der ihr vorschwebte, um mich handelte.
    »Warum ist es so schwer, jemanden fürs Bett zu finden?«, fragte sie mich eines Abends im Dezember, als sie mir von einer weiteren unerquicklichen Verabredung erzählte.
    »Das glaub ich nicht«, sagte ich schließlich, sobald ich wieder atmen konnte.
    »Ich meine jemanden, an dem mir wirklich was liegt«, entgegnete sie und schüttelte traurig ihre mittellange Strähnchenfrisur. »Wissen Sie,
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