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Der letzte Beweis

Der letzte Beweis

Titel: Der letzte Beweis
Autoren: Scott Turow
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wiederzuerkennen, und witzelten ständig, er müsste irgendwo den Flaschengeist und die Wunderlampe versteckt haben. Aber Tommy absolvierte gerade seine zweite Amtszeit als Oberstaatsanwalt und hatte inzwischen gelernt, die Schmeicheleien zu durchschauen, mit denen Menschen stets auf Macht reagierten. Wie sehr konnte sich ein Mensch überhaupt verändern?, fragte er sich. War er wirklich ein anderer? Oder war er nur schlicht zu demjenigen geworden, der er im Kern, wie er wusste, schon immer gewesen war?
    »Hab gerade einen Anruf von der Polizei in Nearing gekriegt«, sagte Brand. »Barbara Sabich wurde tot in ihrem Bett gefunden. Die Frau vom Chefrichter?«
    Tommy mochte Jim Brand. Er war ein ausgezeichneter Anwalt und so loyal, wie das heutzutage nur noch ganz wenige Menschen waren. Trotzdem missfiel Molto die Andeutung, die in Jims Bemerkung mitzuschwingen schien: dass Tommy nämlich ein besonderes Interesse an Rusty Sabich hatte. Was natürlich stimmte. Selbst nach zweiundzwanzig Jahren durchfuhr ihn der Name des leitenden Richters am Berufungsgericht, den Tommy vergeblich wegen des Mordes an einer gemeinsamen Kollegin angeklagt hatte, noch immer wie ein Stromstoß. Und was ihn regelrecht ärgerte, war die Unterstellung, er hätte all die Jahre einen Groll gegen Sabich gehegt. Groll war das Markenzeichen der Unaufrichtigen, die der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen konnten, einschließlich einer Wahrheit, die für sie wenig schmeichelhaft war. Tommy empfand keinerlei Feindseligkeit gegenüber Rusty Sabich. Ein Prozess war ein Hundekampf, und Rusty hatte mit seinem Hund gewonnen.
    »Und?«, fragte Tommy. »Schickt die Behörde Blumen?«
    Brand, groß und kräftig, in einem weißen Hemd, das so steif gestärkt war wie ein Priesterkragen, lächelte und ließ gute Zähne blitzen. Tommy reagierte nicht, weil er die Frage wirklich ernst gemeint hatte. Es erging ihm schon sein ganzes Leben so, dass ihn seine innere Logik, die klar und unverbogen war, zu Äußerungen veranlasste, die alle anderen für schwarzen Humor hielten.
    »Nein, die Sache ist eigenartig«, sagte Brand. »Deshalb hat der Lieutenant es auch gemeldet. Nach dem Motto: >Wie kann das sein?< Die Gattin gibt den Löffel ab, und er ruft nicht mal den Notarzt? Seit wann ist Rusty Sabich denn Rechtsmediziner?«
    Tommy bat um genauere Informationen. Der Richter, so Brand, hatte fast vierundzwanzig Stunden lang niemanden verständigt, nicht mal seinen Sohn. Stattdessen hatte er die Leiche aufgebahrt wie ein Bestatter, als sollte die Totenwache gleich an Ort und Stelle stattfinden. Sabich erklärte sein Verhalten mit Schock, mit Trauer. Er hatte alles genau richtig haben wollen, ehe er die Nachricht weitergab. Tommy fand das nachvollziehbar. Vor zweiundzwanzig Monaten hatte Tommy sich im Alter von siebenundfünfzig Jahren nach einem Leben, in dem schmerzliche Sehnsucht so unvermeidlich schien wie Atmen, in Dominga Cortina verliebt, eine schüchterne, aber reizende Sachbearbeiterin in der Gerichtsverwaltung. Sich zu verlieben war für Tommy nichts Neues. Im Laufe seines Lebens war alle paar Jahre mal eine Frau an seinem Arbeitsplatz, in der Kirche oder in seinem Hochhaus aufgetaucht, für die er dann eine Faszination und ein Verlangen entwickelte, das ihn überrollte wie ein heranrasender Zug. Das Interesse wurde unweigerlich nie erwidert, und so schienen Domingas niedergeschlagene Augen, wann immer Tommy in ihrer Nähe war, in das alte Schema zu passen, was zweifellos verständlich war, schließlich war sie erst einunddreißig. Aber eine ihrer Freundinnen hatte Tommys schmachtende Blicke bemerkt und ihm zugeflüstert, er solle Dominga doch mal zum Essen einladen. Neun Wochen später heirateten sie. Elf Monate danach kam Tomaso zur Welt. Wenn Dominga jetzt sterben würde, dann würde die Welt in sich zusammenfallen wie ein toter Stern, alle Materie auf ein Atom reduziert. Denn Tommy hatte sich, wie ihm immer wieder klar wurde, auf eine entscheidende Weise verändert: Er empfand Freude. Endlich. Und das in einem Alter, in dem die meisten Menschen, selbst diejenigen, die davon regelrecht verwöhnt worden waren, die Hoffnung aufgaben, noch mehr zu bekommen.
    »Fünfunddreißig Jahre oder sogar noch länger verheiratet«, sagte Tommy. »Himmel. Da kann ein Mann schon mal seltsame Dinge tun. Er ist sowieso ein seltsamer Mensch.«
    »So heißt es«, entgegnete Brand. Er kannte Sabich kaum. Für ihn war der leitende Richter eine ferne Figur. Brand erinnerte sich nicht an
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