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Der letzte Beweis

Der letzte Beweis

Titel: Der letzte Beweis
Autoren: Scott Turow
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hat, so zu sein, wie sie ist. Sie ist im Getto aufgewachsen, bekam mit sechzehn einen Sohn und schaffte trotzdem die Schule, um nach einer Ausbildung zur Anwaltssekretärin noch ein Jurastudium anzuhängen und Anwältin zu werden - noch dazu eine gute. Damals, als ich noch Prozessrichter war, hat sie zwei Fälle unter meinem Vorsitz verhandelt. Aber ich sitze seit nunmehr zehn Jahren mit Marvina auf der Richterbank und weiß, dass sie niemals ihre Meinung ändert. Das letzte Mal, dass sie die Worte aus dem Mund eines anderen Menschen für überlegenswert hielt, war, als ihre Mutter ihr in sehr jungen Jahren sagte, sie müsse auf sich selbst aufpassen. »Wer soll es denn sonst gewesen sein?«, fragt Marvina.
    »Bringt Ihre Assistentin Ihnen den Kaffee, Marvina?«, frage ich.
    »Den hol ich mir selbst, vielen Dank«, antwortet sie. »Sie wissen, was ich meine. Welchen Beweis gibt es, dass es nicht jemand in seiner Firma war?«
    »Die Ankläger müssen nicht jede unwahrscheinliche Möglichkeit in Erwägung ziehen«, entgegnet sie. »Und wir müssen das auch nicht.«
    Sie hat damit natürlich recht, dennoch fühle ich mich durch diesen Wortwechsel bestärkt, und ich erkläre meinen Kollegen, dass ich dafür stimme, das Urteil aufzuheben. Also wenden wir beide uns George Mason zu, dem somit die Entscheidung über den Fall zufällt. George ist ein wohlerzogener Südstaatler aus Virginia mit einem weichen Tonfall, der bis heute seine Herkunft verrät, und mit genau der vollen weißen Haarpracht gesegnet, wie sie jeder Casting-Agentur für die Besetzung einer Richterrolle vorschweben würde. Er ist mein bester Freund am Gericht und wird mein Nachfolger als leitender Richter werden, falls ich wie erwartet im kommenden Februar die Vorwahlen und im November darauf die Stichwahl gewinne und ans Oberste Bundesstaatsgericht wechsele.
    »Ich denke, das Urteil ist gerade noch vertretbar«, sagt er.
    »George!«, protestiere ich. George Mason und ich sind uns als Anwälte gegenseitig an die Gurgel gegangen, seit er vor dreißig Jahren als frisch ernannter Pflichtverteidiger an dem Gericht auftauchte, wo ich leitender Staatsanwalt war. Die ersten Erfahrungen sind in der Juristerei ebenso prägend wie überall sonst, und George schlägt sich häufiger auf die Seite der Beschuldigten als ich. Aber das ist heute nicht der Grund.
    »Ich gebe zu, es wäre auf nicht schuldig hinausgelaufen, wenn der Fall ohne Geschworene vor mir verhandelt worden wäre«, sagt er. »Aber jetzt sind wir in Berufung, und ich kann nicht einfach das Urteil der Geschworenen durch mein eigenes ersetzen.«
    Dieser kleine Seitenhieb geht an mich. Ich würde es niemals laut aussprechen, aber ich spüre, dass Moltos Anwesenheit und die Bedeutung, die die Staatsanwaltschaft dem Fall zumisst, bei meinen Kollegen den Ausschlag gegeben haben. Entscheidend ist, dass ich verloren habe. Auch das gehört dazu, die Strittigkeiten des Rechts zu akzeptieren. Ich bitte Marvina, die Begründung für das Gericht aufzusetzen. Sie verabschiedet sich, noch immer ein wenig hitzig, und lässt George und mich allein.
    »Heikler Fall«, sagt er. Es ist ein ungeschriebenes Gesetz bei uns, dass Richter an einem Revisionsgericht ihre Meinungsverschiedenheiten im Besprechungsraum zurücklassen, ganz wie Eheleute, die nie zerstritten zu Bett gehen. Ich antworte mit einem Achselzucken, aber er merkt mir an, dass ich immer noch aufgewühlt bin. »Du könntest einen Widerspruch aufsetzen«, schlägt er vor, womit er meint, dass ich begründen sollte, warum die beiden anderen Richter sich meiner Auffassung nach irren. »Ich verspreche, ich seh mir die Sache noch mal ganz unvoreingenommen an, wenn alles schriftlich vorliegt.«
    Ich widerspreche nur selten, weil es zu meinen Hauptaufgaben als leitender Richter gehört, für Einigkeit am Gericht zu sorgen, aber diesmal beschließe ich, seinen Vorschlag anzunehmen, und gehe rüber in mein Büro, um mich zusammen mit meinen Referendaren an die Arbeit zu machen. Als leitender Richter steht mir eine Büroflucht von der Größe eines kleinen Hauses zur Verfügung. Von einem großen Vorraum, in dem meine Assistentin und meine Verwaltungskräfte arbeiten, gehen auf der einen Seite zwei kleinere Büros für meine Referendare ab und auf der anderen Seite mein eigenes geräumiges Arbeitszimmer, zehn mal zehn Meter groß und anderthalbgeschossig, mit einer alten, matt glänzenden Eichenholztäfelung, die eine dunkle burgähnliche Atmosphäre verströmt.
    Als
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