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Der letzte Beweis

Der letzte Beweis

Titel: Der letzte Beweis
Autoren: Scott Turow
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wird, nur sehr wenige Prozesse wieder aufrollt, spricht das Berufungsgericht in neun von zehn Fällen das letzte Wort.
    Heute geht es um eine einfache Frage: Hat die Anklagevertretung hinreichend Beweise vorgelegt, um den Schuldspruch der Geschworenen im Mordprozess gegen Harnason zu rechtfertigen? Berufungsgerichte heben nur selten ein Urteil mit dieser Begründung auf. In der Regel gilt die Entscheidung der Geschworenen als unumstößlich, außer sie ist tatsächlich irrational. Aber dieser Fall war äußerst prekär. Ricardo Millan, Harnasons Mitbewohner und Geschäftspartner im gemeinsamen Pauschalreiseunternehmen, war mit neununddreißig Jahren an einer rätselhaften fortschreitenden Krankheit verstorben. Der Gerichtsmediziner vermutete eine nicht diagnostizierte Darminfektion oder einen Parasiten. Und bei diesem Stand der Dinge wäre es ohne die Hartnäckigkeit von Ricardos Mutter, die mehrfach aus Puerto Rico anreiste, wohl auch geblieben. Sie opferte ihre gesamten Ersparnisse, um einen Privatdetektiv und einen Toxikologen von der Uni zu engagieren, der die Polizei dazu überreden konnte, Ricardos Leiche zu exhumieren. Bei der Untersuchung von Haarproben wurde ein tödlicher Arsenwert festgestellt.
    Vergiften ist eine hinterhältige Mordmethode. Kein Messer, keine Pistole. Kein nietzschescher Moment, in dem man dem Opfer entgegentritt und die elementare Erregung spürt, den eigenen Willen auszuüben. Vergiften erfordert weitaus mehr Arglist als Gewalt. Und es ist unschwer vorstellbar, dass Harnason einfach nur deshalb bei den Geschworenen keine Chance hatte, weil er äußerlich für die Rolle passt. Er kommt mir irgendwie bekannt vor, aber das liegt bestimmt daran, dass ich sein Foto in der Zeitung gesehen habe und ich mich an jemanden erinnern würde, der absichtlich so sonderbar auftritt. Er trägt einen kupferroten Anzug. An der Hand, mit der er sich emsig Notizen macht, krümmen sich die viel zu langen Fingernägel bereits nach unten wie bei einem chinesischen Kaiser, und seine Haare sind ein einziger Wust von unbändigen rotblonden Strähnen. Auch sein Gesicht wird von rötlichem Haar beherrscht. Die buschigen Augenbrauen erinnern an einen Biber, und ein fuchsiger Schnauzbart hängt ihm bis über den Mund. Mein ganzes Leben lang haben mich Menschen wie er in Erstaunen versetzt. Will er unbedingt auffallen, oder findet er uns Übrige einfach nur langweilig?
    Mal abgesehen von seinem Aussehen sind die faktischen Beweise, dass Harnason Ricardo ermordet hat, dürftig. Nachbarn berichteten von einem nicht lange zurückliegenden Vorfall, bei dem ein betrunkener Harnason auf der Straße mit einem Messer herumfuchtelte und Ricardo wüst beschimpfte, weil der einen jüngeren Mann besucht hatte. Die Anklagevertretung hob zudem die Tatsache hervor, dass Harnason versucht hatte, die Exhumierung von Ricardos Leiche gerichtlich zu verhindern, und zwar mit der Begründung, Rickys Mutter sei eine Spinnerin, die ihn auf den Kosten für eine zweite Beerdigung sitzen lassen würde. Der wahrscheinlich einzige handfeste Beweis sind die mikroskopischen Spuren von arsenikhaltigem Ameisengift, die in dem Schuppen hinter dem Haus, das Harnason von seiner Mutter geerbt hatte, gesichert werden konnten. Da dieses spezielle Produkt seit mindestens zehn Jahren nicht mehr hergestellt wurde, führte die Verteidigung das Argument an, die winzigen Körnchen wären lediglich halb zersetzte Reste aus der Zeit der Mutter, wohingegen der wahre Täter sich eine garantiert tödlichere Form von Arsenik bei etlichen Anbietern im Internet hätte besorgen können. Obwohl Arsenik als klassisches Gift bekannt ist, sind derartige Todesfälle heutzutage eine Seltenheit, weshalb bei den routinemäßigen toxikologischen Untersuchungen im Rahmen von Obduktionen nicht auf Arsenik getestet wird, was der Grund dafür ist, dass die wahre Todesursache anfänglich nicht erkannt wurde.
    Alles in allem ist die Beweislage so ausgewogen, dass ich als leitender Richter angeordnet habe, Harnason bis zur Entscheidung des Berufungsgerichts gegen Kaution auf freien Fuß zu setzen. So etwas geschieht nicht oft, nachdem ein Angeklagter schuldig gesprochen wurde, aber ich fand es Harnason gegenüber ungerecht, ihn in diesem strittigen Fall seine Haftstrafe antreten zu lassen, ehe wir ein Urteil gefällt hatten.
    Diese meine Anordnung erklärt wiederum die heutige Anwesenheit von Oberstaatsanwalt Tommy Molto. Molto ist ein erfahrener Berufungsanwalt, doch als Leiter seiner
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