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Wenn der Golem erwacht

Wenn der Golem erwacht

Titel: Wenn der Golem erwacht
Autoren: Jörg Kastner
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    1
    I ch schwimme in einem Meer aus Blut, aber ich bin nicht tot. Die zähe rote Flüssigkeit umhüllt mich wie das Fruchtwasser einen Embryo. Die Gebärmutter ist riesig, grenzenlos.
    Mit kräftigen Stößen durchpflüge ich die roten Fluten, begegne großen Fischen mit glotzig-starren Augen. Zwischen den schuppigen Fischleibern schimmern andere Körper hindurch, Menschen, die auf dem Grund der roten Tiefsee liegen und zu mir heraufsehen. Ihre Augen bewegen sich nicht, sind glasig, tot, aber die Blicke klagen mich an. Panik erfüllt mich und lässt nur noch einen Gedanken zu: Flucht!
    Ich verdopple meine Anstrengungen, an die Oberfläche zu kommen, von der ich nicht einmal weiß, ob es sie gibt. Mein Sauerstoff wird knapp, die Lungen brennen, als es mir – endlich! – mit ein paar verzweifeltm Schwimmstößen gelingt.
    Das Meer aus Rot verschwindet von einem Augenblick auf den anderen, und die Welt ist weiß. Eine Wüste aus Schnee und Eis. Bevölkert von ebenso weißen Gestalten. Mannsgroße Pinguine, die ihre Kellnerfräcke abgelegt haben.
    Seltsame Geräusche dringen an mein Ohr, erst fern und dumpf, dann deutlicher. Ein Konzert aus Piepen, Sirren und Summen. Wie tausend Insekten, die mich umschwirren.
    Ich fühle sie auf meinem Gesicht: Wespen, Fliegen oder Käfer. Sie bedecken jeden Zentimeter meiner Haut, dringen in Nase, Ohren und Mund ein, wollen mich ersticken oder auffressen. Mein Atem geht in schnellen, kurzen Stößen, pumpt nach jedem Quäntchen Luft, das die wimmelnde Brut mir lässt.
    Ich will die Arme hochreißen und die Insektenarmee von meinem Gesicht fegen. Es geht nicht. Ich bin gelähmt, an Armen und Beinen gelähmt!
    Nur den Kopf kann ich bewegen, schüttle ihn hin und her, verschaffe mir dadurch etwas Luft. Ich kann wieder atmen und denken und mit den Gedanken kommt der Schock. Ich erinnere mich, schon mehrmals mit ähnlich beklemmenden Gefühlen aufgewacht zu sein. Aber wenn ich wach bin, kann ich mich nicht länger in einem Traum befinden …
    Es ist wirklich – Realität!
    Über mir sehe ich verschwommene Gesichter, geprägt von maskenhaftem Lächeln, das mich an Fischmäuler erinnert. Ich höre gedämpfte Stimmen, nur ein Murmeln, spüre einen Stich in meinem linken Arm, kurz nur und nicht sehr schmerzhaft. Eine Injektion.
    Die Gesichter zerfließen und ich falle zurück in den roten Ozean – in das Meer aus Blut.
    »Er kommt wieder zu sich. Herzrhythmus, Puls und Atmung stabil. Sieht so aus, als seien diesmal keine Panikattacken zu befürchten.«
    Die Stimme wirkte beruhigend auf mich. Nicht wegen dem, was sie sagte. Die Bedeutung der Worte wurde mir nur ganz allmählich klar, wie ein akustisches Puzzle, das sich Stück für Stück zusammensetzte. Was mich beruhigte, war die Stimme an sich: Eine menschliche Stimme, weich, warm, weiblich – und ich konnte sie hören!
    Das war der Beweis, den ich brauchte. Der Beweis, dass ich am Leben war. Es war ein Anfang, aber mehr auch nicht. Ich fühlte mich wie jemand, der nach monatelanger Abwesenheit in seine Wohnung heimkehrt. Man sieht die Zimmer, Schränke, Tische und Stühle, betrachtet die Bilder an den Wänden, erkennt alles wieder, und doch ist es einem seltsam fremd. Als wären sämtliche Gegenstände in der Zeit der Abwesenheit zum Leben erwacht und hätten sich verändert. Dabei ist man selbst derjenige, der sich verändert hat.
    Als ich mich umsah, entdeckte ich Menschen in Weiß, die in einem weißen Raum standen. Der Raum war voll von Geräten, die mich mit ständigem Blinken und Piepen und Summen umgaben. Ein elektronisches Insektennest. All das erfasste ich, aber zu mehr reichte es nicht. Ich kannte die Menschen nicht und der Raum war mir ebenso fremd.
    Wo war ich?
    Wie kam ich hierher?
    Ein schneller Blitz traf meine Augen, erst das rechte, dann das linke, und zerriss die brüchige Kette meiner angestrengten Überlegungen.
    »Die Pupillen reagieren normal.«
    Das sagte eine andere Stimme, die eines Mannes. Es klang nüchtern, unbeteiligt. Das Objekt seiner Untersuchung hätte ebenso gut ein Meerschweinchen oder eine Laborratte sein können. Mit dem gleichen Mangel an Mitgefühl hätte er wohl auch festgestellt, dass der Patient tot, die Operation misslungen sei.
    Patient  …
    Operation  …
    Als mir die beiden Begriffe durch den Kopf gingen, verstand ich erst: Ich war der Patient. Ich lag in einem Krankenhauszimmer. Und ich war umgeben von Ärzten und Pflegepersonal.
    Der Mann, der meine Pupillen getestet hatte,
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