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Der letzte Beweis

Der letzte Beweis

Titel: Der letzte Beweis
Autoren: Scott Turow
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ich die Tür zu dem großen Raum öffne, erwartet mich eine Schar von etwa vierzig Leuten, die postwendend »Überraschung!« brüllen. Und ich bin wirklich überrascht, aber vor allem davon, wie morbide ich die Erinnerung an meinen Geburtstag finde. Dennoch gebe ich mich vergnügt, während ich jetzt durch den Raum gehe und Menschen begrüße, die mir durch ihre langjährige Gegenwart in meinem Leben in meiner jetzigen Stimmung ebenso unheilschwanger vorkommen wie Sprüche auf Grabsteinen.
    Sowohl mein Sohn Nat, inzwischen achtundzwanzig, zu schlank, aber bestechend gut aussehend mit seinem pechschwarzen Wallehaar, und meine Frau Barbara, mit der ich seit sechsunddreißig Jahren verheiratet bin, sind gekommen, ebenso, bis auf zwei, alle anderen siebzehn Richter hier am Gericht. Auch George Mason ist jetzt eingetroffen und bringt eine Umarmung zustande, eine moderne Geste, die uns beiden nicht leichtfällt, während er mir im Namen all meiner Kollegen eine Geschenkschachtel überreicht.
    Außerdem anwesend sind einige wichtige Leute aus der Gerichtsverwaltung sowie eine Reihe Freunde, die noch immer als Anwälte praktizieren. Mein ehemaliger Anwalt Sandy Stern, rundlich und robust, aber von einem Sommerhusten befallen, ist mit seiner Tochter und Kanzleipartnerin Marta da. Gleichfalls erschienen ist der Mann, der mich vor über fünfundzwanzig Jahren zu seinem Ersten Staatsanwalt machte, der ehemalige Oberstaatsanwalt Raymond Horgan. Ray verwandelte sich innerhalb eines Jahres vom Freund zum Feind und wieder zurück, als er in meinem Prozess gegen mich aussagte und sich dann, nach meinem Freispruch, dafür einsetzte, dass ich zum kommissarischen Oberstaatsanwalt ernannt wurde. Als Leiter meines Wahlkampfs um den Sitz am Obersten Gericht spielt Raymond jetzt wieder eine wichtige Rolle in meinem Leben. Er ist der Stratege und baggert die großen Firmen um Geld an. Die operativen Details überlässt er zwei Alphaweibchen, einunddreißig und dreiunddreißig, die sich meiner Wahl so kompromisslos verschrieben haben wie Profikiller.
    Die meisten Gäste sind oder waren Prozessanwälte, ein von Haus aus liebenswerter Menschenschlag, weshalb eine allgemein freundliche und heitere Stimmung herrscht. Nat wird im Juni das Juraexamen ablegen und nach der Prüfung vor der Anwaltskammer ein Referendariat am Obersten Gericht anfangen, wo auch ich einst Referendar war. Nat fühlt sich wie immer unwohl dabei, Konversation zu machen, und aus alter Gewohnheit gesellen Barbara und ich uns von Zeit zu Zeit zu ihm, um ihn zu schützen. Meine eigenen beiden Referendare, deren Arbeit vergleichbar ist mit der, die Nat erwartet, nämlich mir bei Recherchen und dem Abfassen von Urteilsbegründungen zu helfen, haben eine weniger ehrenhafte Aufgabe übernommen und fungieren als Kellner. Da Barbara außerhalb unseres Hauses stets unbehaglich zumute ist, vor allem bei größeren gesellschaftlichen Anlässen, übernimmt meine dienstälteste Referendarin Anna Vbstic mehr oder weniger die Rolle der Gastgeberin, gießt eine Pfütze Champagner in die Plastikgläser, die prompt erhoben werden, um ein herzhaftes »Happy Birthday« anzustimmen. Alle jubeln, als sich herausstellt, dass ich immer noch genug Puste habe, um den kleinen Wald von Kerzen auf dem vierstöckigen Möhrenkuchen auszublasen, den Anna gebacken hat.
    Auf der Einladung stand: Keine Geschenke, aber es gibt ein paar Scherzmitbringsel - George hat eine Geburtstagskarte aufgetrieben, auf der vorne draufsteht: »Glückwunsch, Mann, jetzt bist Du 60, und Du weißt, was das heißt.« Drinnen: »Keine Jeans mehr!« Darunter hat George mit der Hand geschrieben: »PS: Jetzt weißt Du auch, warum Richter Roben tragen.« In dem Karton, den er mir überreicht hat, ist ein neuer totenschwarzer Talar mit geflochtenen Goldepauletten wie für einen Tambourmajor. Die Karnevalsrobe für den Chef löst lautes Gelächter aus, als ich sie den Gästen zeige.
    Nach weiteren zehn Minuten mit angeregtem Geplauder verabschieden sich die ersten Gäste.
    »Neuigkeiten«, sagt Ray Horgan mit elfengleich zarter Stimme, als er sich auf dem Weg nach draußen an mir vorbeischiebt. Ein Grinsen zieht Runzeln durch sein breites rosa Gesicht, aber parteiische Gespräche über meine Kandidatur sind während der Dienstzeit verboten, und als leitender Richter spüre ich stets die Verantwortung, Vorbild zu sein. Stattdessen willige ich ein, in einer halben Stunde in sein Büro zu kommen.
    Nachdem alle anderen gegangen sind,
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