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Der letzte Beweis

Der letzte Beweis

Titel: Der letzte Beweis
Autoren: Scott Turow
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Behörde hat er kaum noch Zeit, bei Verhandlungen aufzutreten. Er hat sich dieses Falls persönlich angenommen, weil die Staatsanwaltschaft den Kautionsbeschluss offensichtlich als Hinweis darauf deutet, dass Harnasons Verurteilung wegen Mordes aufgehoben werden könnte. Mit seinem Erscheinen will Molto deutlich machen, wie sehr seine Behörde von ihren Beweisen überzeugt ist. Ich erfülle Tommy sozusagen seinen Wunsch, indem ich ihn eingehend befrage, kaum dass er ans Podium getreten ist.
    »Mr Molto«, sage ich, »korrigieren Sie mich bitte, aber wenn ich das Prozessprotokoll richtig lese, ist nicht eindeutig erwiesen, woher Mr Harnason gewusst haben soll, dass Axsenik bei einer routinemäßigen toxikologischen Untersuchung nicht entdeckt werden würde und Mr Millans Tod somit als natürlicher Todesfall durchgehen könnte. Auf welche toxikologischen Substanzen im Rahmen einer Obduktion getestet wird, ist der Öffentlichkeit doch nicht bekannt, oder?«
    »Es ist kein Staatsgeheimnis, Euer Ehren, aber nein, es wird auch nicht publik gemacht.«
    »Und Geheimnis hin oder her, es gab keine Hinweise darauf, dass Harnason das wissen konnte, richtig?«
    »Richtig, Euer Ehren«, sagt Molto.
    Es ist eine von Tommys Stärken, dass er stets höflich und direkt ist, aber als Reaktion auf meine Fragen kann er nicht verhindern, dass ein altvertrauter düsterer Schatten des Unmuts sein Gesicht verdunkelt. Uns zwei verbindet eine komplizierte Geschichte. Molto war der Anklagevertreter in einem Fall vor einundzwanzig Jahren, der mein Leben noch immer so klar unterteilt wie der Mittelstreifen eine Fahrbahn - als ich wegen des Mordes an einer Staatsanwaltskollegin angeklagt und freigesprochen wurde.
    »Und, Mr Molto, es ließ sich auch nicht mal eindeutig nachweisen, wie Mr Harnason Mr Millan vergiftet haben könnte, oder? Sagten nicht etliche ihrer Freunde aus, dass Mr Millan bei den beiden fürs Kochen zuständig war?«
    »Ja, aber Mr Harnason schenkte normalerweise die Getränke ein.«
    »Aber der sachverständige Chemiker der Verteidigung hat doch ausgesagt, dass Arsenik zu bitter ist, um beispielsweise in einem Martinicocktail oder einem Glas Wein geschmacklich überdeckt zu werden. Diese Aussage wurde von der Anklage nicht angefochten, oder?«
    »Es wurden diesbezüglich keine Einwände erhoben, das ist richtig, Euer Ehren. Aber die beiden Männer haben meistens gemeinsam gegessen. Damit hatte Harnason zweifellos reichlich Gelegenheit, die Tat zu begehen, für die er schuldig gesprochen wurde.«
    Bei uns im Gericht wird in letzter Zeit viel darüber geredet, wie verändert Tommy wirkt, nachdem er in fortgeschrittenem Alter zum ersten Mal geheiratet hat und durch einen Glücksfall nun eine Position bekleidet, nach der er förmlich gelechzt hat. Tommys Glückssträhne kann jedoch nichts daran ändern, dass er schon sein Leben lang zu den körperlich Benachteiligten zählt. Sein Gesicht sieht verbraucht aus, schon fast betagt. Das bisschen Haar, das er noch auf dem Kopf hat, ist völlig ergraut, und die Tränensäcke unter seinen Augen erinnern an benutzte Teebeutel. Dennoch, eine subtile Veränderung ist nicht zu leugnen. Tommy hat abgenommen und sich Anzüge zugelegt, die nicht mehr so aussehen, als hätte er darin geschlafen, und seine Miene wirkt jetzt oft friedlich, geradezu heiter. Aber nicht jetzt. Nicht bei mir. Trotz der vielen Jahre, die vergangen sind, betrachtet Tommy mich noch immer als einen dauerhaften Feind, und dem Blick nach zu urteilen, den er mir zuwirft, als er auf seinen Platz zurückkehrt, hat meine heutige Skepsis ihm eine weitere Bestätigung dafür geliefert.
    Sobald die Verhandlung beendet ist, ziehen die beiden anderen Richter und ich uns allein in einen Konferenzraum gleich neben dem Gerichtssaal zurück, wo wir die Fälle von heute Morgen erörtern, eine Entscheidung fällen und festlegen werden, wer von uns dreien jeweils die Urteilsbegründung schreiben wird. Der Raum ist elegant und wirkt wie der Speisesaal in einem englischen Club, bis hin zu dem Kristallkronleuchter. Ein kolossaler Chippendale-Tisch ist von so vielen Ledersesseln mit hoher Rückenlehne umringt, dass bei den seltenen Gelegenheiten, wenn die gesamte Richterschaft über einen Fall zu beschließen hat, alle achtzehn Kolleginnen und Kollegen daran Platz nehmen können.
    »Bestätigen«, sagt Marvina, als gäbe es da nichts zu diskutieren, als wir zum Fall Harnason kommen. Marvina ist die typische toughe schwarze Lady, die allen Grund
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