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Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Titel: Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
Autoren: Thomas R. P. Mielke
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1. KAPITEL
    »Wenn die Flamme der Kerze den letzten Tropfen Bienenwachs verzehrt hat, werden wir sterben. Damit geben wir das Vermächtnis auf, das unser Volk siebenhundert Jahre bewahrt hat.«
    Die Stimme des alten, hohlwangigen Mannes zitterte wie der Schatten der Kerzenflamme an den entfernten Wänden der Gruft. Niemand aus der Familie wagte, Meister Wolfram zu stören. Obwohl er erst fünfzig Lenze zählte, sah sein Gesicht unter dem hohen, breitkrempigen Topfhut krank und müde aus.
    »Wir haben keine Trockenfrüchte mehr«, fuhr er nach einer langen Pause fort, »kein Mehl und keine Kerzen. Die großen Vögel kreisen nicht mehr um die Kathedrale; und es steht geschrieben, daß wir nicht in unser Dorf zurückkehren sollen, solange draußen noch ungesunde Luft ist ...«
    Er legte seine Hand auf den Arm eines jungen Mädchens neben sich.
    »Sag Guntram, er soll kommen«, flüsterte er leise.
    »Ja, Meister Wolfram!«
    Das hübsche blonde Mädchen raffte ihr kunstvoll besticktes Brusttuch zusammen und huschte an den schmutzig aussehenden Familienmitgliedern vorbei. Ihr Bruder Guntram stand im Schatten.
    »Großvater will dich sprechen ...«
    Er nickte. Schon seit Stunden hatte er erwartet, vom Clan-Chef der Familie ins Licht geholt zu werden. Zusammen mit seiner Schwester drängte er sich bis zum Holzstuhl von Meister Wolfram.
    »Agnes sagt, daß die Zeit für mich gekommen ist ...«
    Der alte Mann sah seinen Enkel aufmerksam an und nickte langsam.
    »Du hast darauf gewartet?«
    »Ja.«
    »Dann geh und gieß den Wein der Letzten Gnade in den Kelch, aus dem wir nacheinander trinken werden.«
    »Der Wein ist dick und harzig«, flüsterte Guntram. »Ich habe ihn gesehen ...«
    »Tu, was ich dir sage!«
    Guntram wehrte sich innerlich gegen die Anweisung. Er war erst sechzehn Jahre alt, aber er fühlte sich stark genug, gegen die starren Regeln seiner Familie zu protestieren.
    Seit drei Jahren hatte er - unbemerkt von allen anderen - in jeder freien Minute nach dem Grund dafür gesucht, warum die Familien des Sakriversums seit Jahrhunderten in einer eigentümlichen, rätselhaften Isolation unter dem Bleidach der Kathedrale lebten, während sich draußen Kulturen und Zivilisationen ganz anders als sie selbst entwickelt hatten.
    Er erinnerte sich an die alten Überlieferungen. In unregelmäßigen Abständen waren die Bewohner des Sakriversums über geheime Gänge und nie enden wollende Wendeltreppen in die Tiefe geflohen. Nur dadurch hatten sie immer wieder Kriegen, Pestilenz und unerwarteten Inspektionen der Weltlichen ausweichen können.
    Doch jede Flucht war mühsamer und beschwerlicher als die vorangegangene gewesen ...
    Meister Wolfram maß trotz seines Alters noch gut neun Zoll - er selbst und seine Schwester brachten nur noch acht alte Zoll Körpergröße auf.
    »Der güldene Kelch unseres Ahnherrn gehört zu den großen Vermächtnissen«, sagte Meister Wolfram. »Wenn wir gemeinsam den Wein der Letzten Gnade trinken, wird kein Weltlicher von dem Geheimnis erfahren, dem wir unsere Existenz verdanken.«
    Guntram trat einen Schritt vor.
    »Habt ihr nicht stets gesagt, daß wir alles daransetzen müßten, weiterzuleben - ganz gleich, was in der Welt geschieht? Ist das nicht unser großer Auftrag seit siebenhundert Jahren?«
    »Es steht geschrieben ...«
    »Nein!« sagte Agnes. Sie griff mit beiden Händen in ihr volles blondes Haar, löste den Nackenknoten und ließ ihre Haare über die Schultern wallen. Mit einem trotzigen Kopfschütteln trat sie neben ihren Bruder.
    »Guntram hat recht! Wir sind noch zu jung, um alles zu verstehen, aber wir wissen, daß unser gemeinsamer Ahnherr das Sakriversum nicht gebaut hätte, wenn er nicht von unserer Zukunft überzeugt gewesen wäre ...«
    »Agnes!«
    Guntram versuchte, seine Schwester zu beschwichtigen.
    »Laß mich!« wehrte sie ab. »Siehst du denn nicht, was hier geschieht? Wir haben keinen Mut mehr. Ich gebe zu, daß ich in den langen Nächten auch an den Wein der Letzten Gnade gedacht habe, doch das ist Frevel! Wir wissen, daß ein Fluch über unseren Familien liegt, doch wir sind gleichzeitig die Hüter der Erkenntnis!«
    »Es hat keinen Zweck mehr«, sagte Meister Wolfram müde. »Diesmal können wir nicht ins Sakriversum zurückkehren!«
    Guntram sah sich um.
    »Vielleicht nicht alle elf«, sagte er und nahm seine Schwester an der Hand. »Aber wenn es nur einigen von uns und aus den anderen Familien gelingt, das Sakriversum zu erreichen, könnten wir einen neuen
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