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SGK264 - Im Wartesaal der Leichen

SGK264 - Im Wartesaal der Leichen

Titel: SGK264 - Im Wartesaal der Leichen
Autoren: Larry Brent
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    Als Mi Tsu die Tür des Hauses aufschloß, in dem sie wohnte, packte
sie das nackte Grauen. Ein Mann stand vor ihr. »Lee !« entfuhr es ihr entsetzt. Ihre Stimme überschlug sich, drang durch den düsteren
Korridor des muffig riechenden Gebäudes an der Peripherie von Hongkong und
weckte die Mitglieder ihrer Familie, die hier unter einem Dach wohnten. Die
wachsbleiche Gestalt vor ihr im Halbdunkeln brachte wie ein Roboter die Arme in
die Höhe und stieß sie ruckartig nach vorn.
    Die junge Chinesin war durch die Begegnung so geschockt, daß sie
nicht auf den Gedanken kam, einen Schritt zur Seite oder zurück zu machen, um
dem Angriff zu entgehen.
    Mit voller Wucht trafen die großen, kräftigen Hände des Mannes
ihren Körper und warfen ihn gegen die Wand.
    Mi Tsu schrie wie von Sinnen. Die Gestalt im Flur trat einen
Schritt auf sie zu, versetzte ihr einen Tritt und sprang dann über sie hinweg,
als im Haus Stimmen laut wurden und Lichter angingen.
    »Mi !« tönte es aus dem oberen Stock. Die
Dielen knarrten. Das Geländer wackelte bedrohlich, als eine Gestalt eilig nach
unten kam und sich daran festhielt.
    Der Mann auf der Treppe war mit einer dunkelblauen Turnhose
bekleidet, hatte leicht gekrümmte Beine und noch einen kräftigen, glatten
Körper, der nicht so recht zu seinem verwitterten Gesicht paßte.
    »Vater! Vater !« schrie Mi Tsu wie von
Sinnen, während sie aufsprang und ihre Augäpfel in der Dunkelheit weiß und
gespenstig leuchteten.
    »Was ist los, Mi ?« fragte der Mann
besorgt. Hinter ihm tauchten weitere Mitglieder der Tsu-Familie auf. »Warum
schreist du so? Was ist denn passiert ?«
    Mit nach vorn gebeugten Schultern und langem, ins Gesicht
hängendem Haar, das ihr Antlitz fast versteckte, taumelte Mi Tsu dem Mann
entgegen und warf sich ihm an die Brust.
    Die Chinesin schlang ihre beiden Arme um die Schultern ihres
Vaters und preßte ihn fest an sich, als wolle sie ihn nie wieder loslassen.
    »Ich habe ihn gesehen... mein Gott... er war hier im Haus !«
    »Wer war im Haus, Mi ?« fragte Chan Tsu,
der nicht verstand, worum es ging.
    »Lee ...«, erwiderte sie mit Grabesstimme.
    Der Mann fuhr wie unter einem Peitschenschlag zusammen. »Unsinn«,
murmelte er tonlos. »Du hast geträumt .«
    Er unterbrach sich und blickte an seiner Tochter herab. Sie war
angezogen von Kopf bis Fuß.
    »Wo kommst du jetzt her ?« fragte er
plötzlich verwundert, als er sah, daß sie kein Nachtzeug trug.
    »Aus der Stadt... ich war in einer Disko ... mit ein paar
Freunden«, antwortete sie schnell, noch immer am
    ganzen Körper wie Espenlaub zitternd.
    »Da hast du getrunken. Hauch mich mal an«, forderte Chan Tsu sie
auf.
    »Ich habe etwas getrunken ... natürlich ... doch nur eine
Kleinigkeit. Lee war da. Er hat mich erst zu Boden gestoßen und dann getreten
... er ist böse ... und...«
    »Schweig, Mi !« fiel Chan Tsu ihr ins
Wort. Seine bläulich angelaufenen Lippen bildeten einen schmalen, harten Strich
in seinem faltigen Gesicht. »Lee kann nicht wiederkommen. Tote kehren nicht
zurück. Das weißt du ebenso gut wie ich .«
    Es dauerte eine Weile, ehe Mi Tsu sich beruhigte.
    Chan Tsu forderte die anderen Familienangehörigen, die durch Mis
Rufe aus dem Schlaf geweckt worden waren, auf, wieder in ihre Zimmer zu gehen.
    Nur seine Frau und seine alte, grauhaarige Mutter, die, gebeugt
von der Last der Jahre, langsam über den Flur ging, standen schließlich noch
bei Mi, um mit ihr das unheimliche Ereignis zu besprechen.
    Mi gab zu, etwas getrunken zu haben. »Aber nicht so viel, daß ich
nicht mehr wüßte, was ich sehe und rede«, schränkte sie ein. »Lee war da ...«
    »Und wo ist er jetzt? Hat er sich vielleicht im Haus versteckt ?« Chan Tsu saß mit Tochter, Frau und Mutter in der kleinen
Küche, wo das Fenster zum Garten weit offen stand.
    »Wer hat denn das Fenster geöffnet ?« fragte er plötzlich erstaunt, als ihm dieser Umstand auffiel.
    »Wahrscheinlich Lee«, entgegnete Mi Tsu. »Irgendwie muß er
schließlich ins Haus gekommen sein .«
    Die Augen der Großmutter füllten sich mit Tränen. Sie murmelte den
Namen ihres verstorbenen Enkels mit zitternden Lippen und fuhr sich durch das
schüttere, graue Haar. »Es war noch schön, als Lee bei uns war, aber er ist
tot. Das mußt du ebenso verstehen wie wir. Keiner von uns kann ihn jemals
wieder zurückholen. Du hattest einen schlimmen Traum, Mi .«
    Die alte Frau senkte den Blick und nickte nachdenklich.
»Vielleicht hast du seinen Geist gesehen, oder
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