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Der Leibarzt der Zarin

Der Leibarzt der Zarin

Titel: Der Leibarzt der Zarin
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Zaren standen vier Strelitzen. Sie wußten nicht, warum. Sie hatten nur den Befehl erhalten, hier zu stehen und jeden, der aus der Falltür kommen sollte, zu töten. Auch im Garten standen vier Soldaten um einen Busch, und die Zarin selbst hatte gesagt: »Wenn in diesem Busch ein Mann und ein Mädchen auftauchen, stoßt sofort zu mit euren Piken.«
    Das war ein sonderbarer Befehl, denn wie sollen aus einem Busch plötzlich ein Mann und ein Mädchen kommen. Aber wenn die Zarin so etwas sagt, soll man nicht nachdenken, sondern gehorchen.
    Und so standen die vier Strelitzen im Schnee, froren und starrten auf den verdammten Busch und sehnten sich nach einem Becher Tee und dem schönen warmen Plätzchen oben auf dem heißen Ofen in der Wachstube.
    Der Zar war wieder in der Kirche und lauschte dem Gesang der Mönche, zusammen mit der Zarin, die bleich und steinern auf einem goldenen Stuhl saß und auf die Ikonostase starrte.
    Der Zar hatte die Augen geschlossen und genoß den Gesang. An Lumansowski dachte er nicht mehr. Iwan war selig über den herrlichen Klang der Männerstimmen. Gab es etwas Schöneres? Konnte man Gott mehr loben als durch diesen wunderbaren Gesang?
    Der Metropolit, der hinter Iwan stand, beugte sich zu dem Zaren vor. »Erhabener«, sagte er, »keiner versteht, wie es geschehen konnte – aber das Volk weiß, daß Ihr in Moskau seid. Man will zu Euch pilgern, um Eure Rückkehr auf den Thron zu erflehen.«
    »Sei still, Vater Philipp«, antwortete Iwan mit geschlossenen Augen. »Diese Stimmen, diese herrlichen Stimmen …«
    »Morgen in der Frühe wird das Volk Euch huldigen, Herr. Moskau wird von tausend Fackeln erleuchtet sein. Rußland ruft nach Euch.«
    »Ich kehre heute noch nach Alexandrowskaja sloboda zurück.« Der Zar blickte zur Seite. Marja saß steinern auf ihrem Stuhl, bleich leuchtete ihr orientalisch-zauberhaftes Gesicht. »Hat man Trottau gefunden?« fragte Iwan.
    »Ja«, antwortete Marja. »Er wartet auf uns. Er behandelt gerade den Bojaren Jurjew.«
    »Jurjew ist hier und nicht in Alexandrowskaja sloboda?«
    »Er ist uns nachgeritten, der Teufel weiß, warum.« Mit diesen Worten baute die Zarin ihr Lügengebäude auf. Es würde heißen, Jurjew habe Trottau geblendet. Heute noch, dachte sie. Und dann zurück nach Alexandrowskaja sloboda. Mein blonder Bär … Du hattest so schöne blaue Augen. Warum belogen sie mich so grausam …
    »Jurjew ist so wild geritten, daß Trottau ihm den Hintern einsalben muß«, sagte sie.
    Der Zar lachte leise. »Ein treuer Mensch, der Jurjew.«
    Marja schwieg. Warte es ab, dachte sie. Nachher wird man Trottau zu dir an den Schlitten führen, und aus seinen leeren Augenhöhlen wird noch das Blut rinnen. Und ich werde schreien: ›Das war Jurjew! Das waren die Bojaren, deine guten Menschen!‹
    »In drei Stunden fahren wir«, erklärte der Zar. »Wenn das Volk mich suchen will, soll es nach Alexandrowskaja sloboda kommen, Väterchen.«
    »Ja, Erhabener.« Der Metropolit beugte sich wieder über die Schulter des Zaren.
    »Ich werde warten. Und sie sollen barfuß kommen, barfuß vor mir im Schnee stehen. Dann will ich mich entscheiden, ob ich nach Moskau zurückkomme.«
    »Sie werden es tun, Erhabener«, erwiderte der Metropolit. »Und ich werde an ihrer Spitze gehen.«
    »Still!« Iwan hob die Hand. »Sie singen die Lobpreisung des Herrn. Diese Stimmen, diese Stimmen …« Er senkte den Kopf und weinte.
    Leise verließ die Zarin die Kirche. Sie wollte zusehen, wenn man Trottau die Augen ausstach, und dabei weinen …
    Es gab noch einen dritten Ausgang aus der Unterwelt unter dem Kreml, einen, den die Zarin nicht kannte. Nur die Blattjews wußten davon. Es war eine Eisentür, die in einen Marmorkamin in der Betkammer des Zaren führte.
    Durch diesen Ausgang flüchteten Trottau und Xenia. Es war ein schneller Aufbruch gewesen. Xenia hatte nur ein paar Kleider und etwas Wäsche zu einem Bündel zusammengerollt, dann hatte Massja weinend Trottau und Xenia geküßt und Gottes Segen auf sie herabgefleht. Zum letztenmal setzte sich Blattjew auf die Steinbank und blies zum Abschied ein Hirtenlied auf seiner Schalmei. Dann ergriff er sie mit beiden Händen, schmetterte sie gegen die Quaderwand und heulte auf, als das Instrument zerbrach.
    Er blieb mitten im Zimmer stehen, sah Trottau aus seinen treuen Augen an. Sein Mund, diese arme, zungenlose Höhle, klaffte auf, er grunzte und lallte, griff unter seinen Rock, holte eine kleine abgegriffene Ikone hervor und sank dann
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