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Der Leibarzt der Zarin

Der Leibarzt der Zarin

Titel: Der Leibarzt der Zarin
Autoren: Heinz G. Konsalik
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sich tief, ließ die Zügel los. Trottau schnalzte mit der Zunge, die drei Pferde wieherten auf und legten sich ins Geschirr.
    »Werden wir Rußland wiedersehen?« fragte Xenia leise.
    »Nein«, sagte Trottau. »Dieses Rußland nicht.«
    »Dann laß mich Abschied nehmen, Andrej …« Sie richtete sich auf, breitete die Arme aus, und so fuhren sie hinaus aus Moskau. Und es war, als umarme Xenia dieses herrliche Land, diese mächtige Stadt, diese gläubigen, seit Jahrhunderten geknechteten und dennoch guten und fröhlichen Menschen.
    Eine halbe Stunde später stieg die Zarin hinab in die unterirdischen Gewölbe. Vier Strelitzen begleiteten sie. Einer von ihnen trug in einem mit Samt ausgeschlagenen Kasten eine lange, spitze, silberne Nadel.
    Marja sagte nichts, als sie sah, daß sie zu spät kam. In Xenias leerem Zimmer knieten die Blattjews und beteten, eng beieinander, Kopf an Kopf, vereint in einem Leid, für das es keine Worte mehr gab.
    Die Zarin lehnte sich an die Wand und blickte auf das Strohlager. Und sie zerfleischte sich innerlich selbst, indem sie daran dachte, daß dort ihr blonder Geliebter mit einer anderen Frau gelegen und diese Frau mehr geliebt hatte als sie, die mächtigste Herrscherin der Welt. Auch für Marja war es ein Abschied für immer. Der Abschied von einer Liebe, die Trottau nie ganz begriffen hatte.
    Wenn die Zarin danach wieder hinaufstieg in den Kreml, würde die Welt ein Ungeheuer mehr bekommen haben. Und noch Jahrhunderte später, immer und immer wieder würden die Geschichtsforscher ratlos vor dem Phänomen dieser Frau stehen und eine Erklärung suchen, warum ein Mensch sich so hatte verwandeln können. Sie würden an alles denken, an Krankheit und ererbten Wahnsinn, an Sadismus und Übersättigung. Aber an eines würden sie nicht denken: an den Tod einer großen Liebe.
    Blattjew mußte weiterleben. Sein Tod hätte den Zaren aufgescheucht. Igor und Massja waren sicher solange auch Iwan lebte. Und das war das Niederschmetterndste für Marja: Es gab keine Rache mehr für sie.
    Sie trat an Blattjew heran, stieß ihm den Fuß in die Seite und deutete auf die vier Strelitzen. Igor Igorowitsch erhob sich gehorsam und ging. Nacheinander führte er die Strelitzen in die kleine Kammer und erwürgte sie mit dem Hanfstrick, während die Zarin allein in den Kreml zurückkehrte.
    Fünf Tage lang tobte Iwan, schrie nach Trottau, ließ Soldaten nach ihm ausschwärmen, peitschte die Kremlwachen zu Tode. Er holte Hellseher und Zauberer nach Alexandrowskaja sloboda, Kartenleger und Wahrsager und versprach Gott drei Kathedralen – die schönsten der Welt – wenn man Trottau wieder herbeischaffte.
    Am sechsten Tag lag Iwan weinend in Marjas Schoß – wie ein Kind, das sich bei seiner Mutter verkriecht. Und die Zarin streichelte sein spitzes, eingefallenes Gesicht und sagte: »Iwanuschka, er war wie ein Adler! Kannst du einen Adler in einem Käfig halten?«
    »Er war der einzige Mensch, mit dem ich reden konnte«, stöhnte der Zar.
    Und er war der einzige Mensch, den ich lieben konnte, dachte die Zarin.
    »Uns bleibt Rußland, Iwan«, erwiderte sie.
    »Ein Land, das mich tötet. Ein Volk, das mich verflucht. Überall nur Verrat … Marja, ich friere …«
    Sie umfaßte ihn, drückte ihn an sich und wärmte ihn mit ihrem Körper. So schlief der Zar ein.
    Am Neujahrstag des Jahres 1565, morgens gegen neun, überfuhr Trottau mit seiner Troika die polnische Grenze bei Polozk. Er war in Sicherheit.
    Hinter ihm schliefen Xenia und Sabotkin. Der treue Riese, dessen Wunden heilten, und Xenia, die mit großen blauen Augen die Welt bewunderte und jede Stunde mindestens einmal fragte: »Andrej, sind wir frei? Sind wir wirklich frei?«
    Gleich hinter der polnischen Grenze hielt Trottau die Troika an, sprang vom Bock, rannte zu den Pferden, umarmte sie und küßte ihre dampfenden Nüstern. Dann weckte er Sabotkin und Xenia, riß die Felldecken von ihnen und zog sie aus dem warmen Stroh.
    »Polen!« schrie er. »Und dort hinten ist Preußen! Verschlaft nicht die herrlichste Stunde eures Lebens! Wir stehen auf freiem Boden!«
    Xenia kletterte aus dem Schlitten. Sie ging ein paar Schritte zurück, blieb dann stehen und blickte hinüber in die weiße, nur von der Spur ihres Schlittens und der Pferdehufe durchpflügten Weite.
    »Und dort ist Rußland«, flüsterte sie und lehnte sich gegen Trottau. Ein leichter Wind trieb den Schnee über das Land und begann, langsam die Spuren zuzudecken. »Mein Rußland …«
    Sie
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