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Der kuerzeste Tag des Jahres

Der kuerzeste Tag des Jahres

Titel: Der kuerzeste Tag des Jahres
Autoren: Ursula Dubosarsky
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fliegen, damit er nicht nach Philadelphia musste.
    Elias schenkte Samuel einen angespannten Blick. »Du bist zu müde zum Zuhören«, sagte er und stand auf. »Es tut mir leid, Samuel. Ich sollte besser nachdenken. Du brauchst Ruhe. Tut mir leid.«
    »Oh, bitte, hör nicht auf!« Samuel fühlte sich am Rande von etwas, einer großen Welle der Erleichterung, die sich über seinem Haupt sammelte. Er könnte es nicht ertragen, wenn das Wasser sich jetzt zurückzog und ihn trocken am Strand zurückließ. »Bitte, hör nicht auf.«
    Elias zögerte.
    »Bitte.«
    Sekunden vertickten. Die Krankenstation verschwamm und rückte in die Ferne. Elias setzte sich wieder hin.
    »Meine Schwestern lasen mir immer Geschichten von solchen Orten vor. Ich hatte drei Schwestern.« Er wandte den Blick von Samuels benommenem und neugierigem Gesicht ab. »Ältere Schwestern. Sie hießen Anna, Eva und Margret. Bis ich so alt war wie du, waren sie schon alle verheiratet und weggezogen, mit eigenen Kindern. Ich war der einzige Junge, wie du. Ich lebte daheim, bei meiner Mutter und meinem Stiefvater. Ich war, wie du dir vorstellen kannst, ein sehr, sehr verwöhntes Kind.«
    »Stiefvater?« Samuel konnte nicht anders. Die Silben entschlüpften ihm ohne sein Zutun.
    »Meine Mutter ließ sich scheiden, als ich noch ein Baby war«, erklärte Elias offen und geduldig, wie ein Lehrer, der ein mathematisches Problem erörterte. »Deshalb wohnten wir bei ihrem Vater, meinem Großvater. Als ich zehn war, heiratete sie wieder. Er war ein sehr guter Mann. Sehr gut zu mir, zu meiner Mutter und zu meinem Großvater.«
    »Ihr habt mit deinem Großvater zusammengewohnt?«, fragte Samuel, jetzt mutiger. Elias hatte einmal einen Großvater! Was für ein alter, alter Mann musste das gewesen sein.
    »Ja, wir lebten alle zusammen. Mein Großvater war sehr religiös«, sagte Elias. »Er brachte mir Hebräisch bei. Ich konnte Hebräisch, noch bevor ich Deutsch konnte. Er nahm mich jeden Tag in die Synagoge mit, auch wenn es mir schwerfiel, an Gott zu glauben. Er war ebenfalls ein sehr guter Mensch, Samuel«, sagte Elias und drückte Samuels Hand, »die Welt ist voller guter Menschen.«
    Samuel gab keine Antwort. Ihm kam es eher so vor, als gäbe es auf der Welt ebenso viele schlechte wie gute Menschen.
    »Jedenfalls«, fuhr Elias fort, »wollte ich, als ich elf war, in die Welt hinausziehen, so weit hinaus wie nur möglich. Ich wollte nach Palästina. Ich erklärte meiner Mutter und meinem Stiefvater, dass ich nach Palästina wollte.«
    »Ganz allein!«, unterbrach ihn Samuel entgeistert. Allein zu verreisen, in ein fremdes Land! Für Samuel war das völlig unvorstellbar.
    »Genau das sagten auch meine Mutter, mein Stiefvater, mein Großvater«, stimmte Elias mit einem Nicken zu. »Besonders mein Stiefvater. › Warum Palästina? ‹ , beschwerte er sich. › Der Junge ist verrückt geworden! Wenn du reisen willst, reise nach Amerika! In Palästina wirst du sterben – die bringen dich um, sobald du von Bord des Schiffes gehst. Der Junge ist verrückt. Und er ist zu jung. Die nehmen ihn nicht mit. ‹ Es gab damals Gruppen, musst du wissen, Samuel, jüdische Jugendgruppen. Die brachten andere Jugendliche aus Deutschland nach Palästina, und ich dachte, sie könnten mich mitnehmen.«
    Elias schaute durch das Zimmer zu dem breiten Fenster, auf die Stadt, das Morgenlicht und die dichten Winterwolken.
    »Aber mein Stiefvater hätte mich sowieso nicht gehen lassen, selbst nach Amerika nicht«, fuhr er nach einer Weile fort. »Er wollte nicht wahrhaben, dass in Europa wirkliche Gefahr drohte. Er glaubte das, was andere Leute ihm erzählten. Dass es vorbeigehen werde, nichts Ernstes sei. Bloß Gerede. Dass alles wieder gut werde. Er glaubte das.«
    Elias rieb sich mit müden, langsamen Fingern den Nacken.
    »Er überzeugte meine Mutter. Sie wollten mich nicht gehen lassen. Also blieb ich bei meiner Familie und musste zusehen, wie meine Freunde nach Palästina aufbrachen. Ich weinte. Ich war sehr wütend.«
    Eine Krankenpflegerin kam und schüttelte Samuels Kissen auf. Elias nickte ihr knapp zu.
    »Wie auch immer, eines Tages, viele Monate später, war mein zwölfter Geburtstag. Der einundzwanzigste Juni, natürlich.« Elias lächelte. »Darauf freute ich mich sehr. Meine Mutter und ich hatten einen Kuchen vorbereitet, mit dem wollten wir meinen Vater empfangen, wenn er von der Arbeit kam. Es sollte ein Teetrinken geben. Geschenke. Mein Stiefvater hatte mir etwas ganz
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