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Der kuerzeste Tag des Jahres

Der kuerzeste Tag des Jahres

Titel: Der kuerzeste Tag des Jahres
Autoren: Ursula Dubosarsky
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Arm liebte.
    Kapitel 19
    Anopheles
    Zwei Tage später wurde Samuel in ein anderes Krankenhaus verlegt, ein Gebäude auf dem Rand einer Klippe, wo man auf Patienten mit Tropenkrankheiten spezialisiert war. An seinem Arm hing jetzt kein Schlauch mehr, denn er war inzwischen ausreichend gestärkt, um seine Medikamente selber einzunehmen.
    Sein Zimmer lag im zweiten Stock, mit Blick über den ausgestreckten Pazifik und auf die Schieferdächer der anderen Stationen: lange weiße, geduckt daliegende, merkwürdig geformte Häuser mit bunt bemalten Fenstereinfassungen.
    Er saß im Bett, neben sich Hannah auf der Matratze. Zu diesem Besuch hatte sie ihm ein Rätselheft und ein Päckchen mit neuen Textmarkern mitgebracht.
    »Mein armer Schatz«, sagte sie. »Es ist alles meine Schuld.«
    »Zaide sagt, es sei alles seine Schuld«, gab Samuel zurück. »Weil er mich gekidnappt hat.«
    »Ach, Schatz«, sagte Hannah.
    »Und Dad sagt, es sei alles seine Schuld«, fuhr Samuel fort, während er das Päckchen mit den Textmarkern öffnete, »weil er uns vorgemacht hat, dass wir nach Philadelphia ziehen.«
    »Ja, das war wirklich schrecklich von ihm«, stimmte Hannah zu. »Und ernsthaft zu glauben, ich könnte mit Randolph durchbrennen! Was für ein Kleinkind. Und dann auch noch ein dermaßen verlogenes«, fügte sie, nach kurzem Nachdenken, säuerlich hinzu – aber Hannah war ein sehr toleranter Mensch.
    Samuel, ganz auf die Titelseite des Rätselhefts konzentriert, gab keine Antwort.
    »Woher hast du gewusst, dass ich krank war?«, fragte er, weil er von Hannahs plötzlicher Eingebung erfahren hatte, er könne krank sein, was sie dazu veranlasst hatte, mit dem Kinderkrankenhaus zu telefonieren, noch bevor Elias überhaupt dazu gekommen war, bei ihr anzurufen.
    Hannah schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, Schatz. Vermutlich habe ich bemerkt, dass du krank warst, ohne dass es mir bewusst wurde. Wir hatten so viele andere Sachen um die Ohren, ich war einfach nicht aufmerksam genug. Aber plötzlich wusste ich es. Einfach so.«
    Samuel schaute ihr in die Augen, violett und schwarz, und dann wieder fort. Man konnte sich darauf verlassen, dass Hannah für alles eine natürliche Erklärung fand. Hannah glaubte nicht an Magie. Und er selber vielleicht auch nicht.
    »Schatz«, sagte Hannah, fasste ihn unterm Kinn und sah ihn an. »Du verstehst doch, was mit dir passiert ist? Warum du krank geworden bist?«
    »Du meinst Malaria.«
    »Du hast verstanden, wie Malaria sich überträgt?«
    »Einigermaßen.« Er zog eine Grimasse.
    »Der Erreger ist eine winzige Kreatur, die im Blutstrom lebt.« Hannah wusste, was › einigermaßen ‹ bedeutete. »Der Moskito ist der Wirt dieser Kreatur. Etwas, das eine Kreatur transportiert und auf andere überträgt, nennt man Vektor. Der Moskito ist ein Vektor.«
    »Die Anophelesmücke«, sagte Samuel, der diesen Namen schon gehört hatte. Er hatte sich in seinem Kopf verhakt. Er klang wie einer der Namen des Teufels, Mephistopheles.
    »Ja.« Hannah sah Samuel mit allergrößter Liebe an. »Die Anophelesmücke. Sie transportiert also solche Erreger. Dann, wenn sie jemanden sticht, entlässt sie die Erreger in das Blut dieser Person. Das ist es, was dir in Neuguinea passiert ist, als du ein Baby warst. Bloß wussten wir das leider nicht.«
    »Und sie bleiben in der Leber«, führte Samuel weiter das aus, was die Ärzte ihm erklärt hatten. »Wie Eier. Und wenn sie schlüpfen, platzen sie aus der Leber raus und greifen dich an, und dann kriegst du Malaria.«
    »Nun, ja«, gab Hannah zu, die eine so kämpferische Beschreibung dieses Vorgangs als beklagenswert überdramatisierend empfand. »Aber du solltest das nicht persönlich nehmen, Schatz. Sie tun nur das, was ihre Gene ihnen vorschreiben, und vollziehen ihren Lebenszyklus.«
    Es fiel Samuel schwer, es nicht persönlich zu nehmen. Er fühlte sich wie ein Erwählter. Eine Anophelesmücke hatte ihn ausgesucht, hatte ihn gebissen.
    »Man wird es niemals wieder los«, sagte er.
    »Vermutlich nicht«, gab Hannah widerwillig zu. »Aber es kann gut sein, dass du nie wieder einen Anfall kriegst, weißt du. Das kommt immer auf die einzelne Person an. Dein Vater und ich, beispielsweise. Wir waren damals in Neuguinea dermaßen krank, aber danach nie wieder. Und immerhin wissen wir jetzt, falls es wieder passieren sollte, womit wir es zu tun haben. Dann können wir dir die notwendigen Medikamente geben.«
    Sie schlug sich die Hände vors Gesicht.
    »Ach«, sagte sie.
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