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Der kuerzeste Tag des Jahres

Der kuerzeste Tag des Jahres

Titel: Der kuerzeste Tag des Jahres
Autoren: Ursula Dubosarsky
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diesem Abend, zum Flughafen. Sie saßen einander gegenüber, im vorderen Teil, und betrachteten die schimmernde Stadt durch die staubigen Fensterscheiben.
    Zu Theodoras Erleichterung hatte Pearl darauf verzichtet, die Polizei zu verständigen. Pearl hatte Angst vor Polizisten: ihre Uniformen, ihre silbernen Ansteckmarken, ihre Körpergröße, all diese Ängste hatte sie von Rhody geerbt. Schon der Anblick eines Polizisten rief das Gefühl in ihr wach, sich auf der Flucht zu befinden.
    » Den armen Elias würden sie jedenfalls verhaften und einsperren«, sagte sie. » Stell dir das bloß mal vor.«
    Pearls Stimme erstarb, als sie an Elias dachte, an das, was Hannah ihr über ihn erzählt hatte.
    » Es ist alles in Ordnung, weißt du«, sagte sie und versuchte dabei, Theodoras Blick zu erhaschen. » Er würde Samuel nirgendwo hinbringen, wo es gefährlich ist. Er überreagiert gerade bloß etwas. In seinem Kopf schwirren einige üble Erinnerungen herum, verstehst du. Ihm sind ein paar wirklich schlimme Dinge zugestoßen.«
    Theodora drückte ihre Nase gegen das Glas, während sie auf dem Plastiksitz auf und ab gerüttelt wurde.
    » Du weißt schon. Damals. In Deutschland«, sagte Pearl.
    Theodora starrte nach draußen, auf die durchscheinend wirkenden, hässlichen Industriegebäude. Sie hasste es, wenn über die Vergangenheit geredet wurde, über die Nazis und Hitler und eine um die andere Reihe toter Juden. Kinder wie sie selbst. Alle tot. Sie hasste es.
    » Woher willst du das schon wissen?«, blaffte sie.
    Pearl strich sich die Haare zurück. Sie wirkte schlecht gelaunt, ungeduldig, zutiefst aufgewühlt.
    » Na gut, vergiss es«, sagte sie. » Das lernt ihr alles in der Schule, oder?«
    Theodora zuckte die Achseln. Sie rutschte auf ihrem Sitz herum. Sie saß da, ohne ein Wort, betrachtete die Straßenlaternen, die Häuser anderer Leute. Ein Satz fiel ihr wieder ein – Es musste der schwere Entschluss gefasst werden, dieses Volk von der Erde verschwinden zu lassen.
    »Rhody hat geglaubt, Hannah wäre in Randolph verliebt«, sagte sie nach einer Weile. »Ist das nicht erstaunlich?«
    »Ach, na ja«, sagte Pearl bewusst leichthin. »So etwas kommt vor.«
    »Ja, tut es wohl«, sagte Theodora, plötzlich traurig. Sie stellte sich Randolph und Hannah vor, wie sie sich glücklich in den Armen lagen. Völlig abwegig war dieses Bild nicht. Aber irgendwie auch lächerlich. Und es gehörte auf keinen Fall zu den Dingen, über die man mit der eigenen Mutter diskutierte.
    Erst als Pearl und Theodora den Bus verlassen hatten und sich mit der nahezu unüberschaubaren Abflughalle des Flughafens konfrontiert sahen, begann ihnen zu dämmern, wie schwierig es sein würde, Theodoras Plan in die Tat umzusetzen.
    Der ausgedehnte Linoleumboden schimmerte und glänzte. Fluoreszierende Zeichen in Englisch und Japanisch signalisierten Imbisse, Geschenke, Zeitschriften. Geldwechselstellen, Mietwagen, Macadamianüsse im Schokomantel, Alkohol. Türen öffneten und schlossen sich elektronisch gesteuert. Und es wimmelte von Menschen.
    »Meine Güte«, sagte Pearl.
    Was habe ich mir eigentlich gedacht?, fragte sich Theodora. Dass wir hier reinspazieren und in dieser riesigen Halle Elias und Samuel in einer Schlange anstehen sehen, beim Videospielen oder in einem Café, wo sie ein Sandwich essen?
    Sie schaute an der Anzeigetafel für Ankünfte und Abflüge empor, die mit ihren ratternden Buchstaben und Zahlen wirkte wie ein einziges gewaltiges Geburts- und Sterberegister. Belgrad, Los Angeles, Kuala Lumpur, Maseru, Rom, Ottawa, München, Wellington, Prag, Kalkutta, Atlanta, Singapur, Manchester …
    An die Existenz so vieler Menschen konnte Theodora nicht glauben. Sie konnte nicht an all diese Städte glauben, an all die Individuen, all diese Familien. Wenn das alles tatsächlich existierte, würden viel zu viele Gefühle in der Atmosphäre herumschweben – die Welt würde explodieren. Sich bloß die Notizbücher vorzustellen, die damit gefüllt würden – die Sterne zu beobachten war nichts dagegen. Selbst ein Computer konnte all diese irdischen Daten nicht erfassen.
    Sie schaute zu Pearl. Ihre Mutter. All diese Menschen um sie herum hatten eine Mutter und einen Vater. Und Großeltern, und Urgroßeltern. Die meisten von ihnen hatten vermutlich auch Brüder und Schwestern. Und Kinder. Und außerdem bekämen sie irgendwann Enkel, und Urenkel. Ihr wurde schwindelig davon.
    »Oh, Mum«, sagte sie.
    Pearl trat einen Schritt zurück, um einer
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