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Der kuerzeste Tag des Jahres

Der kuerzeste Tag des Jahres

Titel: Der kuerzeste Tag des Jahres
Autoren: Ursula Dubosarsky
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Erster wieder das Wort ergreifen und irgendetwas sagen, weder zu diesem noch zu irgendeinem anderen Thema.
    Der Lärm eines sich durch den Himmel fräsenden Flugzeugs ließ Samuel aufschrecken. Er sah zu seinem schlafenden Großvater hinüber, lauschte dem vertrauten schweren, schmerzhaften Atmen.
    Er konnte nicht schlafen. Das Zimmer war so kalt, die Bettdecke so dünn. Zitternd, ohne ein einziges Kleidungsstück auszuziehen, legte er sich wieder hin.
    Er blickte sich mit stumpfem Blick um. In einer Ecke stand ein Fernseher, und nahe des Betts ein Radio. Der Geruch von Zigaretten und Bier war in den Teppich versickert, hing in den Gardinen. Kühle, dreckige Luft wehte durch das leicht geöffnete Fenster, begleitet vom Dröhnen des Autobahnverkehrs – gewaltige Lastwagen mit großen hellen Scheinwerfern, die von Sekunde zu Sekunde schneller und lauter wurden.
    Seine Schultasche lag neben dem Bett auf dem Boden, und er las den Namen, den Hannah mit grünem Marker daraufgeschrieben hatte – SAMUEL CASS . Samuel Cass, dieses faserhafte Wesen im Körper eines Jungen. Samuel Cass. Nur – als Samuel wollte Elias ihn nicht haben. Elias wollte ihn als Theodora: mit ihrem Namen, in ihrer Kleidung.
    Es ist nur ein Name, rief er sich scharf ins Gedächtnis und zog die Decke dichter um sich. Nur ein Name, mehr nicht. Aber manchmal hat ein Name seine eigene Magie, seine eigene makellose Macht.
    Wie Robert Louis Stevenson. Er erinnerte sich an diesen schönen Namen, schwarz, weit geschwungen, in ausladender gotischer Schrift auf dem Buchumschlag in Elias ’ Wohnung. Elias hatte ihnen ein Foto von Robert Louis gezeigt, mit langem Schnurrbart, in einem weißen Anzug.
    Er war, hatte Elias erzählt, ganz unerwartet einfach tot umgefallen. Sein Gehirn hatte versagt. Niemand hatte damit gerechnet, auch wenn er schon vierundvierzig Jahre alt gewesen war. Vierundvierzig Jahre schienen Samuel eine recht lange Lebenszeit, da konnte der Tod kaum noch als Überraschung kommen. Aber Elias hatte gesagt, nein, vierundvierzig sei sehr jung, jünger als Elkanah es war. Ein Mensch kann noch eine ganze Menge mehr Leben als das vertragen.
    Und jetzt fuhren Elias und er nach Samoa. Sie würden das Haus sehen, das Robert Louis für seine Familie gebaut hatte. Vielleicht gab es dort ein Museum – in einer Glasvitrine aufbewahrte Untertassen und Tassen, aus denen er seinen Tee getrunken hatte. Einen Stift, Notizbücher, wie die von Theodora. Vielleicht konnte Elias ihn sogar dazu überreden, das Grab aufzusuchen, wo dieser schöne Name in weißen Stein geritzt war, ganz oben auf einem Hügel in der entfernten Südsee.
    Samuel streckte sich auf dem Bett aus und starrte gegen die dunkle Zimmerdecke.
    »Theodora Danz«, flüsterte er sich selber zu. »Samuel Cass.«
    Samuel schloss die Augen. Theodora Danz. Samuel Cass. Wer war dieser Samuel Cass überhaupt? Was wusste er schon? Was konnte er schon bewirken? Gut möglich, dass es sogar eine Erleichterung sein würde, für eine Weile Theodora zu sein, wie ein Geist, den man aus dem Schattenreich gerettet und dem man einen Körper aus Fleisch und Blut verliehen hatte: ein realer Mensch. Er musste bloß ein lilafarbenes Hemd und ein Paar Jeans anziehen, dann würde er verschwinden. Alle sichtbaren Spuren von Samuel Cass würden sich in Nichts auflösen.
    Plötzlich schien Samuels Gehirn in seinem Schädel anzuschwellen, und er geriet in Panik.
    Kapitel 16
    Ankünfte und Abflüge
    Als es klingelte und Rhody öffnete, hätte er sicherlich nicht Pearl erwartet, die mit Karoschal, dunkler Sonnenbrille und einer schwarzledernen Reisetasche vor der Haustür stand.
    »Grundgütiger! Was machst du denn hier? Du siehst aus wie Prinzessin Anne auf der Flucht.«
    Pearl gab ihrem Vater einen Kuss, musterte ihn und schüttelte traurig den Kopf. »Ach, Dad, schau dich bloß an. Du siehst aus, als wärst du eine Woche durch den Busch geirrt. Gibt es was Neues von Samuel?«
    Rhody sah grimmig an seinem zerzausten Äußeren hinab. »Konnte ja nicht ahnen, dass ich so lange bleiben würde, oder? Und eins sage ich dir, ich trage keinen von seinen Pyjamas.« (Womit, natürlich, Elkanah gemeint war.)
    »Keine Bange, es ist nicht ansteckend.« Pearl rauschte an ihm vorbei durch den Flur. »Er ist schon so auf die Welt gekommen.«
    Theodora, die sich nach oben zurückgezogen hatte, um einen Aktionsplan auszuarbeiten, schob ihren Kopf übers Geländer. Dann rannte sie, immer zwei, drei Stufen zugleich, nach unten. Direkt vor
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