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Der kuerzeste Tag des Jahres

Der kuerzeste Tag des Jahres

Titel: Der kuerzeste Tag des Jahres
Autoren: Ursula Dubosarsky
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herangekarrten Ladung Koffer auszuweichen. »Ich weiß, was du meinst«, sagte sie.
    Theodora nahm Pearls Hand. Die Hand ihrer Mutter. Nicht dass sie Pearl so als Mutter betrachtete, wie andere Menschen ihre Mütter betrachteten. Aber nachdem sie all diese menschlichen Wesen gesehen hatte, über die sie nichts wusste und nie etwas wissen würde, war es beruhigend, eine vertraute Hand zu haben, nach der man greifen konnte.
    Kapitel 17
    Eine Stimme in der Nacht
    Samuel hatte Angst. Etwas stimmte nicht mit ihm. Er fühlte sich, wie er sich im McDonald’s gefühlt hatte, nur schlechter. Die Welt entglitt ihm. Er sah das Gesicht seiner Mutter, auf den Wänden und an der Zimmerdecke, es kam ihm von jenseits der Fenster und der Türen entgegen. Seine Haut brannte.
    Elias schlief. Er sah dermaßen müde aus. Samuel hatte sich Elias nie als einen Menschen vorgestellt, der müde werden konnte. Immer hatte es so ausgesehen, als könnte nichts seinen Körper angreifen – er bekam nie Kopfschmerzen, keinen Kater, nachdem er getrunken hatte, keine Verdauungsprobleme oder Erkältungen. Samuel konnte sich nicht mal erinnern, ihn jemals gähnen gesehen zu haben.
    »Ich bin krank«, sagte er sich selber vor. »Ich bin krank.«
    Wo war er? Laken drückten schwer auf seine Haut, wie Metallblätter, deren Kanten sich in ihn verbissen. Er versuchte sie wegzustrampeln, aber es war, als lägen seine Beine in Ketten.
    Er warf den Kopf herum. Wie viel Uhr war es? Es war so dunkel. Er hatte geschlafen. Er hatte sich verirrt, er musste sich verirrt haben. Diesen Ort hier kannte er nicht.
    Er schaute an seinen Armen hinab und spürte seinen Kopf hoch in die Luft rucken, und wieder zurück.
    »Ich bin krank«, wiederholte er. »Ich bin krank.«
    Er verdrehte seinen Kopf auf dem Hals – ein Ball am Ende einer Stange. Ein Frösteln kroch an seinem Bein hinunter wie ein flinkes schwarzes Insekt. Er zog die Decke enger um sich und schlief ein.
    Ein krachendes Geräusch in seinem Ohr machte ihn wieder wach. Seine Haut kochte, die Decke war zu Boden gerutscht, seine Stirn war nass. Mit jedem Atemzug, den er nahm, schien er weiter zur Zimmerdecke hinaufzusegeln.
    Dann hörte er eine Stimme seinen Namen rufen.
    »Samuel!«
    Samuel stemmte sich hoch und erhob sich auf zitternden Beinen vom Bett.
    »Zaide?«
    Aber Elias schlief tief und fest. Samuel blieb für einen Moment stehen, erfüllt von der Angst, seine Beine könnten ihm wegknicken. Der Hauch einer Brise durchs Fenster verschaffte ihm eine kurze Atempause, und er sog genug Kraft ein, um sich auf das nackte Bett zurücksinken zu lassen, wo er in einen traumlosen Schlaf fiel.
    Dann hörte er es erneut.
    »Samuel!«
    Samuel rollte sich aus dem Bett zu Boden. Es war kein tiefer Fall, aber sein Aufprall klang so ungeheuer laut, als könnte er das gesamte Haus damit aufwecken. Halb ging er, halb kroch er auf seinen Großvater zu, schwächer als zuvor. Er blinzelte – er konnte nicht richtig sehen, es war, als hinge über dem Kopf seines Großvaters eine graue Wolke.
    »Zaide?«, flüsterte er. »Was machst du …«
    Aber der Satz stürzte auf halbem Weg in sich zusammen, als Samuels Kiefer unter einem langen, schmerzhaften Frösteln zu zittern begannen. Seine Decke, er wollte seine Decke. Irgendwie gelang es ihm, zum Bett zurückzukrabbeln und sich in einem der zerstrampelten Laken wie ein Schmetterling in einem engen Kokon einzurollen. Nach einer Sekunde war er wieder eingeschlafen.
    Aber dann hörte er es zum dritten Mal.
    »Samuel!«
    Dreimal, das konnte keine Einbildung sein. Jemand rief nach ihm, brüllte nach ihm, überaus wütend. Schreckliche Angst ergriff ihn.
    Er rappelte sich auf, rannte zu Elias und warf sich auf den schlafenden alten Mann, schluchzte das Schluchzen seiner Mutter und krallte sich an der Brust seines Großvaters fest. Endlich erwachte Elias, zutiefst erschreckt. Er hielt das fürchterlich zitternde Kind in seinen starken alten Armen und etwas durchfuhr ihn so schmerzhaft wie pure Todesangst.
    Er wusste sofort, womit er es zu tun hatte, natürlich wusste er das. Oft genug hatte Elias Menschen in Afrika und Vietnam daran leiden sehen.
    Malaria.
    Kapitel 18
    Der längste Tag des Jahres
    Samuels Haut verströmte Schweiß, sein Kopf schmerzte, sein Körper bebte. Elias raste durch die leeren Straßen, eine Hand am Lenkrad, mit der anderen den Jungen haltend, auf den er murmelnd in einer Sprache einsprach, die Samuel nicht verstand.
    Samuel versuchte zu sprechen, wollte fragen,
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