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Der kuerzeste Tag des Jahres

Der kuerzeste Tag des Jahres

Titel: Der kuerzeste Tag des Jahres
Autoren: Ursula Dubosarsky
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Wunderbares versprochen – ein Tagebuch mit einem goldenen Schloss, das man mit einem goldenen Schlüssel öffnete.
    Ich hatte draußen mit Freunden aus der Wohnung ein Stockwerk tiefer gespielt. Gegen vier Uhr ging ich rauf. Mein Kuchen stand auf dem Tisch, von Geschenken umgeben. Meine Mutter saß neben meinem Großvater auf dem Sofa. Sie hatte geweint. Als sie mich sah, stand sie sofort auf und sagte: › Dein Stiefvater ist nicht von der Arbeit nach Hause gekommen. Wir müssen ihn suchen. ‹ Mein Großvater, der zu jener Zeit schon sehr krank war, nickte mir zu, sie zu begleiten.«
    Samuel wartete. Es schien lange zu dauern, bis Elias weiterredete.
    »Das war ein schrecklicher Nachmittag.« Elias ’ Stimme war trocken. »Dieses fürchterliche, langsam aufdämmernde Begreifen. Meine Mutter zerrte mich von Polizeirevier zu Polizeirevier, überall wollte sie wissen, wo ihr Mann sei. Niemand wollte mit ihr reden. Er war bei der Arbeit verhaftet worden. Man hatte ihn weggebracht, und keiner wusste, wohin. Wir fuhren von Revier zu Revier, rein in die Busse, wieder raus aus den Bussen. Meine Mutter kannte kein Rasten. Du erinnerst dich, es war der längste Tag des Jahres, es wurde also erst sehr, sehr spät dunkel. Aber schließlich mussten wir nach Hause zurück. Es gab nichts mehr, was wir tun konnten.«
    Inzwischen hatte Samuel Angst.
    »Dann, drei Tage später, kam er heim. Wir saßen beim Mittagessen – Kalb – und mein Stiefvater kam zur Tür herein, er trug ein weißes Hemd, und er hatte einen Gesichtsausdruck, wie ich ihn noch nie bei ihm gesehen hatte. Meine Mutter schrie auf, sprang vom Stuhl und lief zu ihm, genau wie ich. Wir setzten uns zusammen hin, ohne ein Wort. Keiner von uns sagte etwas.«
    Samuel wollte nicht mehr zuhören.
    »Lange, lange Zeit sprach er kein Wort. Dann, endlich, schaute er meine Mutter an, legte seine Hand auf meine Schulter und sagte zu ihr: › Elias muss nach Palästina gehen. ‹ «
    Eine große Stille lastete auf Samuel.
    »Aber du bist nicht nach Palästina gegangen«, sagte Samuel, denn so viel wusste er. »Oder?«
    Kein Geräusch drang in den Raum, von keinem Auto von der Straße, von keinem Flugzeug vom Himmel. Die Kinder, die Krankenpfleger, die Ärzte verwandelten sich in Geister.
    »Nein, Samuel«, sagte Elias sanft. »Ich ging nicht nach Palästina. Inzwischen war es für Juden schon zu spät, Deutschland zu verlassen. Das Schiff, das die Freunde mitnahm, denen ich nachgewunken hatte, war das letzte für jemanden wie mich gewesen.«
    Eine Frau in weißer Uniform ging rasch an ihnen vorbei. Schatten und Gerüche schwappten in Samuels Bewusstsein, herein und wieder hinaus, wie gefährliche Gezeiten.
    »Und was hast du stattdessen getan?«
    Elias lehnte sich gegen Samuels steifes Krankenbettkissen. Samuel konnte den Herzschlag des alten Mannes hören, seinen Atem, wie er sich in seine müden Lungen kämpfte.
    »Ich blieb bei meiner Familie«, antwortete Elias. »Einen Monat später war mein Großvater an Asthma gestorben. Mit der Zeit wurden wir alle verhaftet. Meine Mutter, mein Stiefvater, meine drei Schwestern, deren Männer, ihre Kinder.«
    Elias ’ Stimme sank tief und dicht an Samuels Herz.
    »Es tut mir leid, Samuel«, flüsterte er. »Es tut mir so leid, dass ich keine Fotos von ihnen habe, die ich dir zeigen kann.«
    Aber Samuel konnte es nicht ertragen. »Was ist mit deinem Vater passiert?«, fragte er verzweifelt. »Mit deinem echten Vater, meine ich. Dem geschiedenen?« Er wusste, dass alle anderen für immer verschwunden waren, aber es konnte doch nicht jeder tot sein. Ganz bestimmt nicht jeder, oder?
    Elias strich Samuel das blonde Haar aus dem Gesicht. Seine Hand, wie sie so nah an Samuels Gesicht entlangfuhr, kam Samuel vor wie die Hand eines Riesen. Er bemerkte die grauen Haare, die sich auf den Fingerrücken kräuselten, die Venen unter der Haut.
    »Er ging nach Israel«, sagte Elias endlich. »Ich habe ihn dort mehrfach besucht, gemeinsam mit Hannah und ihrer Mutter. Vor etwa fünfzehn Jahren ist er gestorben. Er hatte wieder geheiratet. Aber er hatte keine weiteren Kinder. Ich war sein einziges überlebendes Kind. Und Hannah seine einzige Enkelin.«
    Samuel hörte, wie irgendwo mit rumpelndem Motor ein Auto angelassen wurde. Er schloss seine großen Augen und spürte, wie Elias ’ pulsierende Finger – deren vertraute, geliebte Stärke – Verständnis und eine traurige, kraftvolle Wärme in sein Gehirn verströmten. Wie er diese Hände, diesen
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