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Der kuerzeste Tag des Jahres

Der kuerzeste Tag des Jahres

Titel: Der kuerzeste Tag des Jahres
Autoren: Ursula Dubosarsky
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Pearl blieb sie abrupt stehen.
    »Was machst du hier?«
    »Kinder, ihr rührt mich zu Tränen!« Rhody drehte sich nach seinem Glas um. »Wenn das keine Wiedersehensfreude zwischen Mutter und Tochter ist.«
    »Ist Hannah da? Elkanah?«, fragte Pearl und nahm Theodoras Hand.
    Theodora schüttelte den Kopf. »Sie sind unterwegs, auf der Suche. Mit dem Auto.«
    »Ich frage mich …«, setzte Pearl an, wurde aber von wiederholten Gongschlägen aus dem tiefsten Inneren des Hauses unterbrochen. Rhody verdrehte die Augen.
    »Das ist Randolph Butcher«, erklärte Theodora. »Er stimmt das Klavier.«
    »Wollte sich unbedingt nützlich machen!«, schnaubte Rhody. »Kann man sich in so einer Situation irgendwas vorstellen, das noch bekloppt unnützer sein könnte?«
    »Er repariert nun mal gerne Sachen«, entgegnete Theodora scharf. »Randolph ist ein Freund von Hannah«, sagte sie, wieder an Pearl gewandt. »Er hatte schon mit zweiundzwanzig eine Vollglatze.«
    »Oh, glaub es oder nicht, aber von dem habe ich schon gehört«, sagte Pearl. »Ich wusste bloß nicht, dass er musikalisch ist, das ist alles.«
    »Ist er nicht«, sagte Rhody.
    »Er hat das absolute Gehör«, tadelte ihn Theodora. »Das ist eine ganz außergewöhnliche Begabung.«
    »Na, sieh mal einer an, der Randolph-Butcher-Fanclub, wie er leibt und lebt«, erwiderte Rhody streitlustig.
    Pearl tätschelte ihren Vater am Arm. »Du siehst wirklich verheerend aus, Dad«, sagte sie warmherzig. »Warum kochst du dir nicht einen Kaffee oder so was, während ich mich mit Theodora unterhalte?«
    Rhody öffnete den Mund, unschlüssig, ob er zustimmen oder protestieren sollte – er war ein unberechnender Mensch, mit einem Mundwerk, das schneller war als sein Gehirn; vielleicht seine gewinnendste Eigenschaft. Doch was immer er gerade sagen wollte, wurde von einem neuerlichen Dong Dong Dong Dong auf dem A über dem mittleren C unterbrochen, und er hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu.
    Pearl schaute Theodora an. Theodora schaute Pearl an.
    »Was tun wir jetzt?«, fragte Pearl einfach.
    »Na ja«, gab Theodora zurück, »ich hätte da eine Idee.«
    »Was soll das heißen, sie ist mit Pearl weggegangen?! Es ist beinahe zehn Uhr abends!« Elkanah brüllte schon wieder, beide Arme hoch in die Luft geworfen. »Was, zum Teufel, hat Pearl überhaupt hier verloren?«
    »Meinst du nicht, eine Tochter sollte mit ihrer Mutter losziehen dürfen, ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen? Die wenigsten zivilisierten Menschen dürften dagegen etwas einzuwenden haben, oder?«
    Rhodys Gesicht war von einem roten Schimmer überzogen. Er stemmte sich Elkanah mit geschwellter Brust entgegen, wie ein balzender Vogel.
    »Ist ja gut, Rhody«, beruhigte ihn Hannah. »Und Elkanah, werde um Himmels willen bitte nicht hysterisch, das ertrage ich nicht.«
    »Na, das liegt vielleicht nur daran, dass jedes Mal, wenn ich nach Hause komme, eins von meinen Kindern vermisst wird!« Elkanah warf heftig den Kopf herum. »Und was ist das für ein Lärm, Herrgott?«
    Der Lärm verebbte und die Tür zum Wohnzimmer ging auf. Randolph wurde sichtbar, mit hochgekrempelten Ärmeln und entfernter Krawatte.
    »Gibt’s was Neues?«
    »Oh, Randolph.« Hannah bekam kein Lächeln hin, nicht mal ein Hallo. Ihre Augen, ihr ganzer Körper war in einem Zustand der Verzweiflung, des Zusammenbruchs. Sie spürte ihre Knochen zerbröckeln, ihre Organe sich auflösen, Zelle um Zelle.
    » Wie kommst du mit dem Klavierstimmen voran, altes Schlitzauge?«, fragte Rhody, um das Thema zu wechseln.
    Exzellente Manieren können einem Menschen aus so mancher schwierigen Situation heraushelfen, und diese hier war eine für Randolph.
    » Es geht den Erwartungen entsprechend voran«, antwortete er vorsichtig. » Insgesamt nicht übel.«
    » Elkanah«, sagte Hannah mit schwankender Stimme, den Rücken zur Wand. » Ich mache mir um etwas Gedanken.«
    Elkanah hob langsam den Kopf, wie ein verwundeter Löwe.
    » Ich weiß, es ist fürchterlich albern. Ich meine, es ist in all der Zeit noch nie dazu gekommen, dessen bin ich mir bewusst. Ich kann bloß nicht aufhören, daran zu denken, zumal er sich in letzter Zeit nicht wohlgefühlt hat … Ich weiß nicht … Ich habe einfach dieses schreckliche, schreckliche Gefühl.« Sie griff nach seiner Hand. » Ich glaube, dass er …«
    Aber sie konnte den Satz nicht beenden.
    » Wo sollten sie denn hinfliegen?«, fragte Pearl.
    Sie und Theodora fuhren mit dem roten Zubringerbus, dem letzten an
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