Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der kuerzeste Tag des Jahres

Der kuerzeste Tag des Jahres

Titel: Der kuerzeste Tag des Jahres
Autoren: Ursula Dubosarsky
Vom Netzwerk:
Bettseite. Samuel saß auf der anderen Seite und beobachtete ihn. Dieses hässliche Zimmer gefiel ihm nicht. Es gefiel ihm nicht, mit seinem Großvater hier zu sein, umgeben von Dingen, die niemandem gehörten.
    Er schaute hinaus in die Dunkelheit. Da draußen konnte sonst was sein. Kängurus, direkt unter seinem Fenster. Da mochte ein Mörder herumstreunen. Es war dunkel und trostlos. Er hatte Angst. Er fühlte sich gefährdet wie ein seltenes Tier, das von einem Sternchen im Lexikon als › bedrohte Art ‹ markiert wurde. Wer konnte in einer Großstadt voller Raubtiere bedrohter sein als ein zerbrechlicher alter Mann und ein zwölfjähriges Kind?
    »Hier sind die Anziehsachen«, sagte Elias, indem er eine weiße Papiertüte aus seiner Aktentasche zog, auf der Pringle of Scotland stand. »Für morgen, wenn wir in den Flieger steigen.«
    Samuel nahm die Tüte entgegen und spähte hinein. Ein Paar Jeans waren darin, irgendwelche grünen Sportschuhe und ein langärmeliges Hemd, das mit großen, lilafarbenen Blüten bedruckt war. Samuel hielt den Stoff fest zwischen den Fingern.
    Samuels Stirn brannte, und er drückte mit aller Kraft die Fäuste dagegen. Alles war zu schwer für ihn, alles. Diese Sachen gehörten Theodora. Elkanah hatte sie ihr aus Perth mitgebracht. Samuel wusste noch, wie sie die Sachen anprobiert hatte und wie ihre großen Augen dabei die Farbe geändert hatten, von grau zu lila: weise und geheimnisvoll. Warum hatte Elias ausgerechnet diese Klamotten für ihn mitgenommen? Das musste ein Irrtum sein. Aber Samuel hatte noch nie erlebt, dass Elias einem Irrtum erlegen wäre. Elias war immer so umsichtig, so behutsam, so zurückhaltend, so verstohlen.
    »Zaide«, sagte Samuel, »diese Sachen gehören Theodora.«
    Elias zog die Stirn kraus. »Ich habe es dir doch erklärt, Samuel.« Er klang ungeduldig. »Hast du nicht zugehört?«
    »Es tut mir leid.« Samuel schüttelte den Kopf. »Ich hab’s vergessen.«
    Hatte Elias es ihm erklärt? War Samuel im Auto eingeschlafen? Er konnte sich nicht daran erinnern, dass es um Theodoras Sachen gegangen war, bloß um eine Reise nach Samoa.
    »Du willst doch nicht nach Amerika«, sagte Elias kontrollierter. »Deshalb fliegen wir nach Samoa, weißt du nicht mehr?«
    Samuel nickte.
    »Samoa ist eine Insel, und es ist ein anderes Land«, fuhr Elias fort. »Um in ein anderes Land einzureisen, braucht man einen Pass.«
    Samuel nickte erneut.
    »Also, wenn deine Eltern dich bei der Polizei als vermisst melden, wird die Polizei deinen Namen an alle Flughäfen durchgeben, damit du das Land nicht verlassen kannst, oder damit sie, falls das schon passiert ist, herausfinden können, wohin du gereist bist.«
    »Warum sollten sie denn denken, dass ich geflogen bin?« Samuel war verwirrt. »Warum sollten sie überhaupt auf die Idee kommen, ich würde das Land verlassen wollen?«
    Elias wischte den Einwand beiseite. »So etwas kommt vor«, sagte er. »Es ist eine von vielen Möglichkeiten. Ich möchte, dass unser Aufenthaltsort so lange wie möglich unentdeckt bleibt. Also, am Flughafen werden sie nach einem Jungen namens Samuel Cass suchen. Aber den werden sie nicht finden, stimmt’s? Verstehst du, warum?«
    Samuel wartete.
    »Weil«, sagte Elias, »Samuel Cass das Land nie verlassen hat. Das hat Theodora Danz getan. Und nach der sucht niemand.«
    Er machte eine Pause. »Verstehst du?«
    Samuel gab keine Antwort.
    »Ich habe Theodoras Reisepass hier.« Elias klopfte gegen das Außenfach seiner Aktentasche. »Den Pass und die Anziehsachen habe ich letzten Sonntag bei euch mitgehen lassen, in meiner Aktentasche, als ich euch besucht habe.«
    Samuel starrte Elias an. Er wollte das gern verstehen.
    »Du meinst damit«, sagte Samuel langsam, »dass ich so tun soll, als wäre ich Theodora.«
    »Genau.«
    Samuel spürte den Boden unter seinen Füßen zur Seite kippen, als hätte die Erde gerade ihre Umlaufbahn geändert.
    »Ich habe ihren Pass«, wiederholte Elias. »Ihr beiden seht euch so ähnlich, und in ihren Klamotten kommst du kinderleicht durch alle Kontrollen. Bis irgendjemand merkt, was überhaupt geschehen ist, wird es zu spät sein.«
    Samuel Cass. Theodora Danz.
    »Nun komm«, sagte sein Großvater. »Wir müssen uns ausruhen. Du siehst sehr müde aus, Samuel. Du musst ordentlich schlafen.«
    Es wurde dunkel im Zimmer, nicht dunkel wie bei Nacht, sondern wie in einem Krankenzimmer. Elias legte sich sehr vorsichtig auf die Tagesdecke, als drohten seine Knochen zu
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher