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Der König und die Totenleserin3

Der König und die Totenleserin3

Titel: Der König und die Totenleserin3
Autoren: franklin
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Kapitel eins
    Und Gott zürnte Seinem Volk von Somerset, sodass Er im Jahre unseres Herrn 1154 am Tage nach dem Fest des heiligen Stephanus die Erde erbeben ließ, um es für seine Missetaten zu strafen …
    S o schrieb Bruder Caradoc in der Kapelle des heiligen Michael auf dem Gipfel des als Glastonbury Tor bekannten Hügels, den er keuchend und schluchzend erklommen hatte, um der Zerstörung zu entgehen, die Gott mit Seinem Erdbeben über alles gebracht hatte, was unterhalb der Erhebung lag. Seit zwei Tagen harrten er und seine Mitbrüder dort oben aus und wagten den Abstieg nicht, weil sie noch immer die Nachbeben hörten, die ihre Abtei erzittern ließen. Mit Entsetzen beobachteten sie weitere riesige Wellen, die die kleinen Inseldörfer in den Avalon-Sümpfen überfluteten.
    Zwei Tage, und Caradoc war noch immer durchnässt und hatte Schmerzen in der armen alten Brust. Als das Erdbeben begann und er mit seinen Mitbrüdern aus der schwankenden Abtei zu dem Hügel hetzte, der in Gefahrenzeiten schon immer ihr Zufluchtsort gewesen war, hatte er den heiligen Dunstan gehört, den strengsten aller Heiligen, wenngleich schon seit einhundertsechsundsechzig Jahren tot, der ihm auftrug, zuerst das »Buch von Glastonbury« zu retten. »Caradoc, Caradoc, tu deine Pflicht, selbst wenn der Himmel einstürzt!«
    Aber nicht der Himmel, sondern die Gemäuer stürzten ein, und Caradoc hatte nicht den Mut gefunden, in die Bibliothek der Abtei zu laufen und den prächtigen, mit Edelsteinen besetzten Band zu holen – er war ohnehin zu schwer, als dass er ihn den Hügel hätte hinauftragen können.
    Schon die Last des Schiefertafelbuches, das immer an dem Strick um seine Taille hing, war fast zu viel gewesen für einen alten Mann, der sich einen fünfhundert Fuß hohen, steilen Kegel hinaufquälen musste. Sein Neffe Rhys hatte ihm geholfen, hatte geschoben, gezogen, ihn angeschrien, schneller zu gehen, aber der Aufstieg war schrecklich gewesen, einfach schrecklich.
    Und jetzt, im kalten, trockenen, aber unerschütterlichen Schutz der Kapelle, die Josef von Arimathäa erbaute, nachdem er die Schalen, die Christi heiliges Blut und Schweiß enthielten, aus dem Heiligen Land hergebracht hatte, erfüllte Bruder Caradoc seine Pflicht als Chronist der Abtei. Bei schwachem Kerzenlicht nutzte er notgedrungen den Altar des heiligen Michael als Tisch, um die jüngsten Ereignisse in der Geschichte von Glastonbury auf Schiefertafeln niederzuschreiben, um später alles auf das Pergament des »Großen Buches« zu übertragen.
    Und des Herrn Stimme ertönte in den Schreien der Menschen und dem Gebrüll der Tiere, während die Erde wankte und unter ihnen aufklaffte, im Umstürzen gewaltiger Bäume, im Umkippen von Kerzen und im Tosen der Feuersbrünste, die ausbrachen, als Häuser niederbrannten.
    Die Schmerzen in seiner Brust nahmen zu, und die Mahnung des heiligen Dunstan klang weiter in seinen Ohren. »Das Buch muss gerettet werden, Caradoc! Die Geschichte all unserer Heiligen darf nicht untergehen.«
    »Ich bin noch nicht bei der Welle angekommen, Mylord. Lasst mich wenigstens noch von ihr berichten!« Er schrieb weiter.
    Am lautesten sprach unser Herr im Rauschen einer herannahenden Woge, die sich in der Bucht höher auftürmte als eine Kathedrale und die Flussmündungen im Tiefland von Somerset heraufbrandete, um Brücken hinwegzureißen und alles zu ertränken, was sie erfasste. Durch Seine Gnade erreichte sie nur die unteren Ausläufer unserer Abtei, sodass diese noch steht, jedoch …
    »Das Buch, Caradoc. Sag deinem faulen Neffen, er soll es holen!«
    Bruder Caradoc schaute zu seinen Mitbrüdern hinüber, die reglos und, um sich gegenseitig zu wärmen, eng zusammengedrängt auf dem Boden des Chorraums lagen. Manche von ihnen schnarchten. »Er schläft, Mylord.«
    »Wann tut er das nicht?«, fragte der heilige Dunstan mit einer gewissen Berechtigung. »Entweder er schläft oder er singt unschickliche Lieder, dieser Junge. Der bringt es nie zum Mönch. Tritt ihn wach!«
    Sachte stupste Bruder Caradoc ein Paar magere jugendliche Knöchel mit dem Fuß an. »Rhys, Rhys. Aufwachen, mein Junge!«
    Eigentlich war Rhys, der Novize, ein guter Junge mit einer schönen Tenorstimme, doch der heilige Dunstan hatte recht, der Bursche sang lieber weltliche Lieder als Psalmen, weshalb die anderen Mönche ihn unentwegt schalten und ihn auf Trab hielten, um ihm den Müßiggang auszutreiben. Jetzt war er übermüdet, knurrte nur kurz und schlief
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