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Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition)

Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Cornelia Read
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träumte Kurzgeschichtenträume zwischen grausamen Radiowecker-Salven.
    Normalerweise hörte ich auf dem Weg zur Arbeit auf meinem schrottigen Walkman »Rhapsody in Blue«, weil das Klarinettensolo am Anfang den Weg nach Upper Manhattan erträglicher machte. Doch heute brauchte ich eine Mixkassette mit poppigen Kokain befeuerten Achtzigerjahre-Hymnen: Chaka Khan, Bronski Beat und »The Dominatrix Sleeps Tonight«. Jay McInerney für die Ohren.
    Vor den Gebäuden hing leichter Dunst, Weiß auf Weiß, unterbrochen von den Erkerfassaden der Edith-Wharton-Brownstones zwischen Sixth und Fifth Avenue. Noch war die Luft frisch, doch ich spürte, wie die schweißtreibende Schwüle des anbrechenden Tages bereits mit den Hufen scharrte.
    Leider war die Luft nicht frisch genug, um den Gestank von Kotze, Müll und schwärender Pisse auf der Straße zuüberdecken. Ich war lange genug zurück in New York, dass ich mir wieder angewöhnt hatte, durch den Mund zu atmen.
    Im Schaufenster der trotzkistischen Buchhandlung hing mein Lieblingsaufkleber, der mir auch heute ein Lächeln entlockte: »U. S. Out of North America!«
    Dann ging ich schneller, schob mich durch die Menschenmenge, die immer dichter wurde, je näher wir der U-Bahn kamen – Schwärme von Pendlerfischen auf dem Weg durch die Drehkreuze, um abzulaichen und zu sterben.
    In der U-Bahn stand ich mit leicht gebeugten Knien da, wie ein Surfergirl die geschrottete Federung des Waggons reitend, bis wir kreischend an der Fifty-ninth Street zum Stehen kamen. Dann warf ich mich durch die Tür, noch bevor sie ganz offen war, um mich als Erste durch die knirschenden Zinken des Ausgangs zu winden, ein Rädchen im Getriebe.
    The Catalog befand sich im zwölften Stock, direkt gegenüber dem zickigen Redaktionsteam von Granta ; die noch schlimmere Review war hinter Tür drei am Ende des Gangs. Wir waren eine Triade lose verbundener Geldgräber, vermutlich entstanden als angeschwipstes Venn-Diagramm auf einer Cocktailserviette bei irgendeiner Literaturparty. Die Arbeitsatmosphäre erinnerte an den alten Witz über den Elfenbeinturm – es wurde so skrupellos mit den Ellbogen gekämpft, weil es um so wenig ging.
    Pagan war längst an ihrem Platz, als ich in den Empfang spazierte. Sie war Assistentin der Bildredaktion und hatte mir den Teilzeitjob am Telefon besorgt.
    In Syracuse hatte ich drei Jahre als fest angestellte Reporterin einer Wochenzeitung gearbeitet, aber das war in Manhattan nichts wert, eine Erkenntnis, die mir im Nachhinein mehr Mitgefühl für die Provinz vermittelte, als ich aufbringen konnte, während ich mit Dean dort oben lebte.
    Ich parkte meinen Coffee-to-go neben einem freien Computer und setzte mich mit dem Rücken zum Fenster. Die Aussicht ging auf einen gemauerten Luftschacht, der durch den spärlichen Lichteinfall das ganze Jahr über wie das Arschloch des Februars wirkte.
    Yong Son war mit der Verwaltung der Kreditkartenzahlungen beschäftigt, während Yumiko und Karen mit dem Hörer am Ohr vor sich hin tippten.
    Ich fuhr meinen Computer hoch, trank einen Schluck Kaffee und wartete, bis die dritte Leitung klingelte. Das Coole an dem Job waren die Kundengespräche. Wir hatten eine Standleitung zu den Warenlagern von Baker & Taylor’s in New Jersey und Illinois – einem Buchgroßhändler, der praktisch jedes lieferbare Buch auf Lager hatte.
    Es kamen Anrufe aus Tucson, Fargo, Bakersfield, Anchorage. Es kamen Bestellungen aus Buenos Aires, Paris, Guam. Leute, die nach verlorenen Lieblingsbüchern suchten, um sie ihren Kindern vorzulesen. Leute, die Sehnsucht nach obskuren absurden Romanen hatten, nach schmalen Lyrikbändchen, nach schweren Anthologien. Die nach Noir- und Science-Fiction-Opern dürsteten, nach Zane Gray, Aischylos, Kipling oder Hollywood Babylon. Die lernen wollten, Knoten zu binden, Rosen zu züchten, Dinghis zu zimmern, die Zäune, Ehen, Oldtimer reparieren wollten.
    Endlich klingelte das Telefon. Ich drückte auf die blinkende Taste für Leitung drei und nahm ab.
    »Guten Morgen, Sie sprechen mit The Catalog, wie kann ich Ihnen helfen?«
    Ein paar Stunden später, als meine Schicht zu Ende war, lag Pagan ausgestreckt auf dem Teppichboden im Empfang. Sie hatte Kopf und Arme tief in den Eingeweiden des Kopierers versenkt, und um sie herum standen schief aufgetürmte Papierkassetten.
    »Scheißpapierstau«, knurrte sie, als sie herauskroch. »Was scheißegal ist, weil der Scheißtoner alle ist.«
    Das einzige Indiz, dass draußen auf der
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