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Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition)

Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Cornelia Read
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weichem Asphalt und dem Hühnerbrühemief der Menschheit, ganz zu schweigen von den süßsauren Wolken fauliger Abfallgase, die mir gelegentlich aus den Hinterhöfen der Restaurants entgegenschlugen.
    Ich ging weiter, als das Gedränge auf dem Bürgersteig dünner, die Geschäfte weniger und die Lücken größer wurden, bis ich schließlich eine kraterübersäte Sackgasse im Schatten einer Hochbahntrasse erreichte. Auf einer Seite befand sich eine Efeuwand, durch die hier und da ein rostiger gusseiserner Schnörkel blitzte.
    Dann entdeckte ich ein kleines schiefes Tor neben einer neoromanischen Kapelle aus goldgrauem Stein. Das stumpfwinklige Dach erinnerte eher an eine Synagoge als an eine Kirche, und die Fensterrosetten waren kaputt.
    Hinter dem Tor konnte ich eine etwa zwei Basketballfelder große gerodete Fläche sehen. Schiefe Grabsteine ragten aus Unkrautstoppeln, und ein Dutzend mit Gartenabfällen gefüllte schwarze Abfalltüten säumten den Anfang eines Pfads, der bis ins wildwuchernde Innere des Friedhofs führte.
    Ich folgte dem schmalen Weg in den Dschungel aus Nesseln und Ranken, der mich stellenweise um zweifache Mannshöhe überragte.
    »Cate?«, rief ich. »Ich bin es, Madeline …«
    Irgendwo hörte ich leises Lachen.
    »Cate?«
    Ich fand sie nach der ersten Biegung im Unterholz, mit einer Gruppe von schnatternden Teenagern, die mit Gartenscheren und Macheten bewaffnet waren.
    Meine neu gefundene Cousine wischte sich mit dem Arm über die Stirn, dann entdeckte sie mich und winkte mir zu.
    »Das ist Madeline«, stellte sie mich vor, bevor sie die Namen ihrer Mannschaft aufzählte.
    Im Schatten war es kühler, aber als ich stehen blieb, rann mir der Schweiß in Strömen über das Gesicht. Ich nahm mein Halstuch aus der Tasche und band es mir um die Stirn, Deadhead-mäßig.
    »In der Kapelle steht ein Krug Eiswasser«, erklärte Cate. »Komm, wir trinken einen Schluck, bevor du dich an die Arbeit machst.«
    Ich blinzelte, als wir wieder in der Sonne standen, und folgte ihr an dem Rechteck der Grabsteine vorbei, dessen kniehohes Geländer von niedrigen Granitobelisken an jeder Ecke gestützt wurde.
    »War hier alles so überwuchert, als ihr angefangen habt?«, fragte ich mit einem Blick auf die kühle grüne Wand hinter uns.
    »Massives Pflanzengewebe«, antwortete sie. »Für das Stück hier haben wir den ganzen Sommer gebraucht. Die letzte Beerdigung hat 1954 stattgefunden – und ich schätze, das war auch das letzte Mal, dass jemand versucht hat, Unkraut zu jäten.«
    An der Tür der Kapelle zog Cate einen großen Schlüsselbund aus der Tasche und begann, einen nach dem anderen Schlüssel durchzugehen.
    Ich sah über den Eisenzaun zur Hochbahn, die auf einem Damm aus müdem Beton über uns hinwegkreischte.
    Schließlich schob Cate den passenden Schlüssel in ein Vorhängeschloss und drehte ihn mit roher Gewalt.
    »Es muss hier sehr schön gewesen sein«, sagte ich. »In der ganzen Stadt. Bevor es die Stadt richtig gab.«
    »Wahrscheinlich konnte man damals von hier aus bis runter zum Wasser sehen. Früher haben sich die Leute schöne Plätze für ihre Toten ausgesucht.«
    Schwer vorstellbar: keine Häuser, kein Asphalt, nur sandige Fußwege, die sich durch die Strandpflaumen und Felsenbirnen schlängelten, unter Long Islands großzügigem grünem Blätterdach, das glitzernde Teiche und weiße Strände, Weizenfelder und Austernbänke, Wildblumenwiesen und Biberdämme miteinander verband.
    Im schattigen Inneren der Kapelle hallten unsere Schritte von den steinernen Mauern wider. Cate füllte zwei Pappbecher mit kaltem Wasser und reichte mir einen.
    »Wir haben gerade einen Grabstein freigelegt, den die Kids aufregend finden«, sagte Cate. »Ein Sklavengrab.«
    Ich sagte ihr, dass ich es auch sehen wollte, und so warfen wir unsere Becher in eine Mülltüte und gingen wieder hinaus.
    Cate ging voraus, und ich folgte ihr im Gänsemarsch ins Dickicht.
    Am Wegesrand konnte ich im Unterholz ein paar Steine erkennen – die Gräber von Leuten, mit denen Cate und ich verwandt waren: Townsends und Ludlams, Seamans und Underhills.
    Außerdem waren alte New Yorker Namen darunter, die ich von Avenues, Boulevards und Parks kannte: die Lefferts, die Wyckoffs, die Boerums.
    Ich blieb neben dem Grab eines gewissen Elias Baylis stehen:
    Für die Liebe zur Freiheit der Britischen Grausamkeit zum Opfer gefallen und trotz seiner Blindheit gefangen gesetzt, in New York, September 1776, um nach der Freilassung auf der
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