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Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition)

Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Cornelia Read
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nachdem sie ihn aus dem Zündschloss gezogen hatte.
    Der Nebel senkte sich und sog die Dunkelheit auf wie ein durstiger Wattebausch.
    Im Auto stank es nach Blut, also öffnete ich die Tür, doch wir blieben einfach sitzen, schweigend, mit geschlossenen Gurten.
    »Wir brauchen einen Drink«, sagte sie.
    »Wein?« Ich verzog das Gesicht bei dem Gedanken an die herbsüßen Weißweine, die sie gern trank. Mit fünfzehn hatte ich bereits Geschmack an dem Zeug gefunden – nur nicht an dem Zeug.
    Mom zuckte die Schultern. »Es ist Scotch da. Oder vielleicht ist es Bourbon.«
    Eine staubige Flasche Old Crow, ein weiteres Stück Treibgut im schmutzigen Kielwasser der S. S. Pierce Capwell.
    »Ich schätze, das ist gemeint, wenn man von medizinischer Verabreichung spricht«, sagte ich.
    Sie stieg aus dem Wagen, ich folgte ihr. Der Kies unter unseren Füßen knirschte wie Cornflakes. Mom öffnete den Riegel des Gartentors. Mit quietschenden Angeln schwang die schwere Tür nach außen, und wir wanderten hintereinander den moosigen Backsteinpfad hinauf.
    Als wir im Haus waren, ging ich nach links, schob mit der Schulter die Küchentür auf und tastete an der Wand nach dem Lichtschalter.
    Mom war hinter mir und blinzelte im Licht.
    Sie sagte kein Wort, sondern griff nach dem Saum ihrer blutgetränkten Bluse und zog sie sich über den Kopf. Dann warf sie sie in die Spüle und ließ kaltes Wasser einlaufen, bevor sie sich wieder mir zuwandte.
    Ihre Schultern hingen herunter, und das Licht der Deckenlampe ließ ihre Augenringe noch dunkler erscheinen. Braune Punkte sprenkelten ihren Bauch und den BH, wie ein verschwommenes Blumenmuster – Blut, das durch die Spitze gedrungen war.
    Ich hielt eine Handvoll Küchenpapier unter den Wasserhahn und drückte es ihr in die Hand. Sie schloss die Finger um den nassen Lappen, doch sie rührte sich nicht.
    Ich nahm zwei Gläser aus der Spülmaschine. »Wo steht der Bourbon?«
    »Oben im Besenschrank«, sagte sie.
    Die Flasche war halb leer und staubig. Ich nahm sie am Henkel herunter und füllte unsere Gläser ein Drittel voll.
    Eins reichte ich Mom, dann hob ich meines. Der braune Alkohol verströmte einen scharfen Geruch: Kerosin, mit Nagellackentferner gepanscht.
    »Schluck schnell runter«, sagte Mom. Was ich tat.
    Der Fusel zerrte an meinem Brechreiz, und plötzlich verstand ich, warum Jack Nicholson in Easy Rider diese komischen Road-Runner-Geräusche von sich gab, wenn er irgendeinen Rachenputzer schluckte.
    »Oh Gott«, keuchte ich mit brennender Kehle. »Das Zeug müsste Dirty Old Crow heißen.«
    Mom setzte ihr Glas an, trank und fing ebenfalls an zu husten.
    »Gibt es wirklich Leute, die so was gerne trinken?«, fragte ich.
    »Der erste Schluck ist immer der schwerste.«
    »Hoffentlich«, gab ich zurück.
    Mom ließ den Bourbon in ihrem Glas kreisen und lächelte mich an. »Sei kein Feigling.«
    Also leerte ich mein Glas mit dem dritten Schluck, damit ich bloß nicht noch einmal da durchmusste.
    »Old Crow in schimmligen Turnschuhen«, keuchte ich, als ich wieder atmen konnte.
    Mom brauchte noch zwei Schlucke, bis ihr Glas leer war, dann kicherte sie.
    »Na gut«, sagte ich, »die Nachwirkung ist anständig.«
    Es fühlte sich an, als hätte mir jemand Tigerbalsam gespritzt, und das Glühen breitete sich jetzt aus meinem Bauch bis in jeden verspannten Muskel aus. Plötzlich war die Welt wieder gemütlich, unsere Küche war meine spirituelle Heimat und die Motorradfahrer wären bald wieder gesund.
    Mom hielt immer noch den nassen Küchenkrepp in der Hand. Wahrscheinlich war er inzwischen eiskalt, und ich nahm ihn ihr ab und warf ihn in den Müll.
    »Ich glaube, du musst in die Badewanne«, sagte ich.
    Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin müde. Ich will mich hinlegen.«
    Ich zeigte auf ihren blutigen Bauch.
    Mom wusch sich an der Spüle mit einem Schwamm und Spülmittel. Sie warf den BH zu ihrer Bluse ins Becken, zog den Stöpsel, um beide mit kaltem Wasser auszuspülen, und warf am Ende den Schwamm weg.
    Die Schiffsuhr im Wohnzimmer schlug achtmal, um für irgendeine Schiffscrew die Wachablösung einzuläuten.
    Mom ging ins Schlafzimmer.
    Ich sah zu, wie das rostrote Wasser im Abfluss der weißen Porzellanspüle verschwand, dann wanderte ich über die dunkle Küchentreppe nach unten in mein Zimmer, schwankend und schlaff auf von Bourbon gelösten Beinen.
    Ich legte mich eine halbe Stunde aufs Bett und hörte auf dem Radiowecker Popmusik – irgendwas Neues von den Eagles und dann Boz
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