Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das dreizehnte Kapitel (German Edition)

Das dreizehnte Kapitel (German Edition)

Titel: Das dreizehnte Kapitel (German Edition)
Autoren: Martin Walser
Vom Netzwerk:
[zur Inhaltsübersicht]
    Erster Teil
    1
    Schloss Bellevue, sagte ich. Der Taxifahrer hatte bemerkt, dass ich getan hatte, als führen wir jeden Tag zweimal dahin, und tat seinerseits so, als sei das eine ihm unbekannte Adresse. Wer’ma findn, sagte er.
    Iris suchte meine Hand. Du hast kalte Hände, sagte ich. Wenn wir uns beide stumm transportieren ließen, musste der Taxifahrer das für eine Art Pathos halten. Und draußen dreißig Grad. Da durfte ich doch tun, als fielen mir Iris’ kalte Hände auf. Der Taxifahrer wusste ja nicht, dass Iris immer kalte Hände hat, dass also nichts so überflüssig war, wie zu sagen, sie habe kalte Hände.
    Dass Iris nichts sagte, rechnete ich ihr hoch an. Ihr war es gleichgültig, was der Taxifahrer über uns dachte. Das ist ihre Unabhängigkeit. Sie hat ihren Schwerpunkt in sich selbst. In der Schule war zu lernen: Körper, die den Schwerpunkt innerhalb ihrer Unterstützungsfläche haben, fallen nicht um. Das ist Iris.
    Ich dagegen, wenn ich nicht Iris hätte, auf die ich mich stützen kann, ich fiele andauernd um. Mir hätte es auch gleich sein können, was der Taxifahrer über uns dachte. Wenn ich nicht diesen komischen Ehrgeiz hätte, überall bestimmen zu wollen, wie ich wirke. Locker plaudern, alltäglich sein, banal, dass der Taxifahrer denken musste, die fahren wirklich jeden Tag zum Bundespräsidenten ins Schloss Bellevue. Stumm, mussten wir ergriffen wirken. Das waren wir überhaupt nicht. Und eben deshalb wollte ich diese Wirkung nicht zulassen.
    Als der Taxifahrer sah, wie viele Autos am Schloss vorfuhren, sagte er: Da tut sich watt. Ich bezahlte ihn deutlich besser, als er erwarten konnte.
    Die Mädchen, denen ich die Einladung zeigte, versorgten uns mit zwei Kärtchen, auf denen unsere Tisch-Nummern standen. Ich kriegte noch die Namensschildchen, meins steckte ich mir sofort an, weil ich nicht den Eindruck erwecken wollte, man müsse mich hier kennen. Iris steckte das ihre in ihre Tasche. Dann in den Saal mit hohen, runden Tischchen. Man konnte den Aperitif, der einem sofort aufgedrängt wurde, auch stehend freihändig trinken. Iris nahm Orangensaft, ich Champagner. Iris ging an ein freies Tischchen, ich folgte. Ich prostete ihr zu. Dann sagte ich: Lauter unbekannte Prominenz. Und sie: Wie wir. Und schon landete ein Paar an unserem Tischchen. Er hatte ein Schild am Revers. Unlesbar. Freundliches Nicken. Gläserheben. Er sagte: Wir kennen hier keinen. Das war ein Angebot. Leider sagte ich nicht: Wir auch nicht. Oder noch besser: Uns kennt hier auch keiner. Stattdessen sagte ich: Nur den Bundespräsidenten. Jetzt lachte das Paar und prostete uns zu. Dann sagte er: Entweder Wissenschaft oder Wirtschaft. Ich hätte auf mich zeigen sollen und dazu sagen: Oder weder noch. Stattdessen sagte ich: Oder beides. Jetzt sagte er: Salute. Ich, dämlich: Zum Wohl.
    Dann der Sog zu der gewaltigen Tür in den Festsaal. Ich brachte Iris an ihren Tisch, bot ihr ihren Platz an und suchte meinen Tisch und meinen Platz. Durfte ich mich setzen, oder musste ich mich zu jedem und zu jeder, die da schon saßen, hinbegeben? Ich blieb hinter meinem Stuhl stehen, nickte denen, die schon saßen, zu und wartete, bis die Dame, deren Tischherr ich sein würde, erschien. Dass ich zur Rechten der Frau des Bundespräsidenten sitzen würde, hatte mir der Persönliche Referent mitgeteilt. Dass ich überhaupt eingeladen war, verdankte ich nur ihm. Bei irgendeinem Empfang hatten wir uns kennengelernt, er hatte gerade mein Erfolgsbuch Strandhafer gelesen und war angeblich sehr glücklich, den Autor selbst zu treffen. Und hatte gleich gesagt: Sie werden von mir hören.
    Meine Tischdame wurde von ihrem Mann geliefert, wir gaben einander die Hand, dann saß sie, ich konnte mich setzen. Ich schätzte, dass wir fünfzehn oder sechzehn waren an diesem großen runden Tisch. Die Frau des Bundespräsidenten wurde von einem feierlich wirkenden Protokoll-Mann hergebracht. Sie breitete die Hände aus, nickte allen zu und setzte sich. Ich war noch einmal aufgestanden und setzte mich erst wieder, als sie saß.
    Sie sagte zu mir: Ich freu mich. Ich zog mein Gesicht in verwunderte Falten. Und sie: Als sie mich auf der Gästeliste entdeckt habe, habe sie darum gebeten, mit mir an einem Tisch zu sitzen. Und sagte: Strandhafer .
    Ja, sagte ich, das ist ein vernichtendes Schicksal, wenn man erlebt, dass alles, was man in vierzig Jahren gemacht hat, zusammenschnurrt auf ein einziges Wörtchen.
    Zum Glück wartete schon ein
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher