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Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition)

Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Cornelia Read
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Brooklyn-Fähre in den Armenseiner Tochter das Leben auszuhauchen. In Gefangenschaft pflegte er den 142. Psalm zu singen.
    Gleich daneben stand ein kleinerer, weniger fein ziselierter Stein, auf dem stand: Unser Baby . Die zwei Worte waren so ungleichmäßig und schwach gehauen, dass ich den jungen Vater vor Augen hatte, der jeden Buchstaben mit seinem eigenen Werkzeug herauskratzte, weil er sich den Steinmetz im Ort nicht leisten konnte.
    Cate war ein paar Meter vorausgegangen. Ich holte auf, und wir stiegen über einen Haufen Ranken und die knorrigen Wurzeln eines Baums.
    Dann zeigte sie auf einen weißen Marmorstein in der Senke dahinter, die Oberfläche mit Moos überwachsen.
    Jane Lyons, eine farbige Frau, mehr als 65 Jahre treue und hingebungsvolle Dienerin der Familie James Hariman senior dieses Dorfes, gestorben 19. Dez. 1858 im Alter von 75 Jahren.
    Ich berührte die Ziffern ihres Todesjahrs.
    »Wann wurde in New York noch mal die Sklaverei abgeschafft?«, fragte ich.
    »1827«, antwortete Cate.
    »Das heißt, sie war erst Sklavin der Familie gewesen und ist dann bei ihnen geblieben?«
    »Wo hätte sie schon hingehen können?«
    Natürlich wusste ich, dass der Süden nicht die alleinige Schuld an der Sklaventreiberei in Amerika trug – dass auch der Norden mitsamt seiner Geschichte kein Rosengarten war, der ausschließlich von Fluchthelfern der Underground Railwoad und Harriet Trubmans solidarischen Spiritual-Chören bevölkert wurde, aber mir war nicht bewusst, dass mein Heimatstaat der Sklaverei erst drei Jahrzehnte vor Lincoln ein Ende gesetzt hatte.
    »Wenigstens hatten sie den Anstand, ihren Namen zu nennen«, sagte ich. »Auf unserem Friedhof in Oyster Bay haben sie nur blanke Steine bekommen – einen am Kopfende und einen am Fußende, als ginge es hauptsächlich darum, das Grab zu markieren, damit niemand versehentlich eine Sklavenleiche ausgrub.«
    Ich spürte den Impuls, auf die Straße zu laufen und mich bei allen schwarzen Passanten zu entschuldigen, die zufällig vorbeikamen.
    »Gib mir was zu tun«, sagte ich.
    Cate führte mich zum Pfad zurück und drückte mir eine Gartenschere und eine Machete in die Hand.
    »Wir gehen davon aus, dass tief im Dickicht ein paar Obdachlose übernachten«, warnte mich Cate, als sie mir noch ein paar Gartenhandschuhe reichte. »Halt die Augen offen. Wenn wir auf ein Lager stoßen, versuchen wir, die Sachen möglichst unberührt liegen zu lassen.«
    »Okay.«
    Und dann legten wir los und hackten uns in verschiedene Richtungen in das Unterholz. Bald mischten sich der grüne Duft von geschnittenem Gras und der scharfe Geruch von Nesselsaft in die drückende Luft.
    Als meine ersten zwei Abfalltüten voll waren, hatte ich einen tiefen Tunnel ins Dickicht geschlagen, und von Cate hinter mir war nichts mehr zu sehen.
    Mein Stirnband war heiß und nass. Ich schüttelte Cates grobe Handschuhe ab, um das Tuch umzudrehen, dann bückte ich mich tiefer, um mit bloßen Händen eine Getränkedose und ein paar braune Bierflaschenscherben aufzuheben.
    Aus diesem Winkel konnte ich hinter dem Blättervorhang die Umrisse eines weiteren moosgrünen Grabsteins ausmachen.
    Mit einem Hieb mit der Machete öffnete sich ein Tunnel, in den ich auf allen vieren kriechen konnte, um dieInschrift zu lesen, doch auf halbem Weg zuckte ich zurück, weil ich um ein Haar die Hand in den aufgeblähten Kadaver einer toten Ratte gesetzt hätte.
    Das schmutzige Fell wimmelte vor Ameisen, und ich drehte angewidert den Kopf weg.
    Und da sah ich den Totenschädel.

6
    Im ersten Moment dachte ich, ich hätte ein Straußenei gefunden, ein glattes cremefarbenes Oval, gemustert mit den zitternden Tupfen des grüngoldenen Lichts.
    Doch es war kein Ei. Es war Knochen.
    Hatte jemand das vergessene Grab ausgegraben? Nein. Die Erde unter dem Schädel war glatt, der braune Teppich des Urwaldbodens dick und unberührt.
    Ich kroch weiter und schauderte, als ich mit der Hand in etwas Warmes, Nasses fasste, doch es war nur Regenwasser, das sich in den Falten einer Plastiktüte gesammelt hatte.
    Die Ratte hatte nach Verwesung gestunken, doch weiter hinten roch die Luft süß nach feuchter Erde mit der herbstlichen Note von modernden Blättern.
    Jetzt konnte ich den scharfen Wangenknochen des Schädels und das Kiefergelenk sehen. Ich ging auf die Ellbogen und robbte wie ein Soldat unter der niedrigen Pflanzendecke voran, bis ich den Schädel direkt vor mir hatte.
    Die Augenhöhlen wirkten bambihaft riesig, die Zähne
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