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Der Judas-Schrein

Der Judas-Schrein

Titel: Der Judas-Schrein
Autoren: Andreas Gruber
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Zunge klebte am Gaumen. Er kaute an einem Hemdknopf und schluckte, während er einen Fuß vor den anderen setzte, um eine weitere Runde um die Ölkreidezeichnungen zu beginnen. In der Bewegung lauschte er jedem Geräusch, das er jenseits der Wände hörte. Lachen und Geflüster! Die Nervenklinik musste mehrstöckig sein. Seine Zelle lag genau in der Mitte. Er hörte sogar das leise Kichern nebenan, das Kratzen an den Wänden, das Schlurfen der Socken und das Gemurmel der anderen Insassen, wenn sie Selbstgespräche führten. Hatten sie das gleiche Schicksal erlitten wie er? Wohl kaum! Er konnte sich nicht vorstellen, dass das, was er erlebt hatte, ein zweites Mal passieren würde … und falls doch? Das Ohr an die Wand zu legen, um mehr zu erfahren, wäre zu gefährlich. Er war kein Narr, also hielt er sich in der Zellenmitte auf, damit er zu den Wänden spähen konnte, immer auf der Hut.
    Er trug das brüchige, schwarze Lederband um den Hals, welches nach Erde, Blut und Schweiß roch, die daran hängende Kugel ständig zwischen den Fingern rollend. Das Projektil hat irgendwann einmal die Brust eines Mannes durchschlagen, den er nie kennen gelernt hatte, und war in dessen Rückgrat stecken geblieben. Das war sein einziges Stück Erinnerung an Grein, den Rest hatte er im Ort zurückgelassen. Immer wieder nahm er das verformte Bleigeschoss in die Hand, spürte die rauen Kanten, rollte es so lange zwischen den Fingern, bis es warm wurde. Er gab den Talisman nicht aus der Hand. Früher hatte er nicht an die Magie geglaubt, dass ein Gegenstand, der schon einmal den Tod gebracht hatte, im Weiteren davor schützen würde - jetzt schon! Der Talisman hatte ihm das Leben gerettet. Trotzdem hatte er neues Glück dringend nötig, denn seine Lage hatte sich kaum verbessert.
    Schritte! Er fuhr herum. Schuhe tappten draußen über den Fliesenboden. Es waren die Bewegungen einer Frau, er hörte das Rascheln ihres Rocks, das leichtfüßige Quietschen der Kreppsohlen. Vor seiner Türe verstummte es. Die Klappe des Spions wurde aufgeschoben, ein Auge erschien hinter dem Glas. Für einen Augenblick waren die langen Wimpern einer Frau zu erkennen. Sie beobachtete ihn wieder. Er konnte ihre Gedanken erahnen. Warum schlief er immer noch nicht? Ja, weshalb bloß? Seit Tagen hielt er sich krampfhaft wach. Diejenigen, die den Grund dafür kannten, wussten, dass er nicht aufgeben würde, denn die Schrecken, die ihn während seines Schlafs erwarten würden, waren viel größer als die Schmerzen, die er sich zufügte, um wach zu bleiben. Und diejenigen, welche die Wahrheit nicht kannten, sahen sie im Ausdruck seiner rotgeränderten, panischen Augen. Was um Himmels willen war ihm an diesem Ort nur zugestoßen? Wenn sie doch nur einen Funken davon glauben könnten!
    Er kämpfte gegen die Erschöpfung an, durfte sich nicht auf den Boden setzen, durfte sich nicht ausruhen, die Augen schließen, auch wenn es nur für einen Moment war … und er durfte unter keinen Umständen auch nur einer der Wände zu nahe kommen. Sobald er sich bloß für eine Sekunde an die Wand lehnte, hatte er den Kampf verloren. Seine einzige Chance bestand darin, sich in der Mitte des Zimmers zu halten, immer in Bewegung und wach zu bleiben. Wieder ritzte er sich mit der rauen Kante der Bleikugel eine Kerbe in den Unterarm. Die Wunde füllte sich mit frischem Blut. Das Adrenalin schoss ihm durch den Körper, der Schmerz hielt ihn wach. Heute war es bereits die fünfte Schnittwunde, dabei war der Tag erst wenige Stunden alt. Die Kerben der vergangenen Nacht waren bereits verkrustet, das gestockte Blut hatte sich dunkel gefärbt. Mit Entsetzen stellte er fest, dass er die Schnitte in immer kürzeren Abständen brauchte, um wach zu bleiben. Auf seinem Körper sahen sie wie Runen aus … zweiunddreißig an der Zahl.
    Wieder öffnete sich das Guckloch. Diesmal ging auch die Bodenklappe auf, ein Tablett mit frischem Essen wurde über den Boden geschoben. Er rührte weder die Speise noch die Flasche an. Bestimmt hatten sie ein Schlafmittel in den Kartoffelbrei gerieben oder im Getränk aufgelöst. Um sich zu vergewissern, roch er an dem Saft. Diesmal strömte kein beißender Alkoholgeruch aus der Flasche. Auch sie wurden schlauer. Gewiss hatten sie ihm einige Tropfen geruch- und geschmackloses Cisordinol in den Saft gemixt, um seinen Widerstand zu dämpfen, den Prozess des Einschlafens zu beschleunigen. Er kaute wieder am Knopf, um weiteren Speichel zu sammeln. Auch wenn seine Lippen
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