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Der Judas-Schrein

Der Judas-Schrein

Titel: Der Judas-Schrein
Autoren: Andreas Gruber
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Sie selbst bildete den Abschluss in einer langen Reihe grauer Herren im dunklen Nadelstreif.
    »Schließen Sie die Tür, Körner. Setzen Sie sich!« Jutta Koren wandte ihm den Rücken zu und starrte aus dem Fenster. Der Regen tränte über die Scheiben, und im grauen Einerlei des Straßenverkehrs blitzten die Autoscheinwerfer und die Neonreklamen der Kaufhäuser.
    Körner blieb stehen. Er sah sein Spiegelbild im Fenster, das kantige Gesicht und das zurückweichende Haar, das er sich mit der Maschine so kurz wie möglich stutzte. Er war knapp einundvierzig Jahre alt, die Geheimratsecken machten ihn interessant, wie er fand. Doch sein raues Außeres, die stechenden braunen Augen und das Lächeln, das er zuweilen zu Stande brachte, würden ihm jetzt nicht viel nützen. Jutta Koren würde ihn zur Schnecke machen, so viel war sicher. Die Frage lautete nur: Welche Konsequenzen zog es nach sich? Die Zweifel zermürbten ihn und hatten ihn die halbe Nacht wach liegen lassen.
    Die Grande Dame der Kriminalpolizei ließ sich Zeit. Sie neigte den Kopf und blickte immer noch stumm aus dem Fenster. Koren war zehn Jahre älter als er, verdammt attraktiv und sportlich, hatte einen dunklen Teint und war stets perfekt geschminkt. Wie immer machte sie eine elegante Figur. Seine Vorgesetzte trug einen grauen Hosenanzug, hielt die Hände hinter dem Rücken verschränkt und bohrte mit einem ihrer Pfennigabsätze auf dem Parkett, als denke sie darüber nach, ob sie gemäßigt oder aufgebracht beginnen sollte.
    »Seit fünf Jahren leite ich das Mord-, Betrugs- und Entführungsdezernat«, sagte sie leise, als rede sie mit sich selbst, während sie der Straßenbahn nachblickte. »Ich habe einen Sechzehn-Stunden-Tag, siebenmal in der Woche. In dieser von Männern dominierten Arbeitswelt darf ich mir keinen Fehltritt leisten. Seit ich diesen Job erfülle, versuche ich mich von meinen männlichen Kollegen abzuheben: Ich arbeite hart, versuche fair zu sein und lasse mich auf kein Intrigenspiel ein. Das ist der Grund, weshalb in diesem Haus von allen Seiten gegen mich gearbeitet wird. Bisher konnte ich mich aus zwei Gründen halten: ein gutes Team und herausragende Leistungen. So läuft das Spiel.«
    Also ging sie es sanft an, überlegte Körner. Die harte Tour wäre ihm lieber gewesen, denn in der vermeintlichen Sanftheit lauerte die Gefahr. Doch wozu die Ansprache? Worauf wollte sie hinaus?
    »Ich sage es Ihnen ehrlich.« Sie wandte sich um und musterte ihn mit kalten Augen. Ihre Stirn lag in Falten, von ihrem gewohnten Lächeln war nichts übrig. Sie richtete den Zeigefinger auf ihn. »Ihr Fall könnte mir das Genick brechen«, wisperte sie drohend. »Das Landesgendarmeriekommando wartet nur darauf, mich aus diesem Büro zu jagen. Dennoch versuche ich, Sie so lange wie möglich zu decken.«
    »Ich habe …«
    »Seien Sie still!« Das Haar fiel ihr mit grauen Strähnen in die Stirn. »Und jetzt setzen Sie sich endlich!«
    Körner warf den Mantel über die Stuhllehne, blieb aber stehen. Er senkte den Kopf und starrte das Narbengewebe auf seinem Handrücken an. Der Rest der alten Wunde war durch den Pullover und das Sakko verdeckt.
    Koren ignorierte seine Sturheit. Im gemäßigten Ton sprach sie weiter. »Novak war ein alter Fuchs, die graue Eminenz im Morddezernat. Viele haben auf seinen Posten spekuliert. Als Novaks Nachfolger sind Sie einer der jüngsten Chefinspektoren des Morddezernats. Und was machen Sie bei Ihrem ersten Fall als Chefinspektor? Sie rücken mit entsicherter Dienstwaffe aus!«
    Die verdammte Waffe! Ja, er hatte geahnt, dass dieser Vorwurf kommen würde. Gestern Abend - er führte Verhandlungen mit einem mutmaßlichen Mörder, den sie in der achten Etage eines Hochhauses gestellt hatten. Die Glock steckte entsichert im Holster, er trug das Sakko offen und beugte sich zu dem Verdächtigen vor. »Ich habe …«
    »Sie waren eine Gefahr für das gesamte Team! Sie haben dem Verdächtigen ihre Waffe unter die Nase gehalten. Er wäre ein Idiot, hätte er nicht danach gegriffen. Bilanz: ein schwer verletzter Mittelsmann, ein angeschossener Beamter aus dem Bombenteam, und Doktor Sonja Berger aus Ihrer Gruppe wurde ebenfalls verwundet. Aber das Schlimmste: Sie haben dem Mann mit der Faust den Adamsapfel zertrümmert. Er liegt im Koma - Herrgott! Sein Anwalt hat heute Morgen Verbindung mit der Presse aufgenommen.«
    »Was sollte ich machen? Der Kerl hat das Feuer eröffnet, während er in der anderen Hand den Bombenauslöser hielt. Er
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