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Der Judas-Schrein

Der Judas-Schrein

Titel: Der Judas-Schrein
Autoren: Andreas Gruber
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lockern. Wie würde er sich erst in einer Stunde verhalten, wenn er sich schon jetzt so anstellte?
    »Provinznest ist noch untertrieben. Grein am Gebirge ist eine Fünfhundert-Seelen-Gemeinde. Dort gibt es außer einer Pizzeria und diesem Lokal keine Möglichkeit, um auszugehen.«
    Sie rutschte auf dem Beifahrersitz herum. »Sie kennen den Ort?«
    »Bin dort aufgewachsen.«
    Plötzlich bekam sie große Augen. »Erzählen Sie.«
    Er schwieg und starrte auf die regennasse Fahrbahn. Seit er die Fotos in Jutta Korens Büro gesehen hatte, war sein Unterbewusstsein aufgewühlt. Stück für Stück krempelten sich seine verschütteten Erinnerungen um und platzten hervor, wie verstaubte Kartons, die von der Dachbodentreppe polterten und am Fußboden des Wohnzimmers auseinander brachen. Er wollte nicht sehen, was sich darin befand, doch je näher sie Grein kamen, desto mehr Kartons purzelten herunter. Irgendwie wurde er nicht damit fertig, sie alle rechtzeitig wieder zu verstecken.
    »Grein ist ein ehemaliger Bergwerksort«, begann er zu erzählen. »Warum das Bergwerk vor über sechzig Jahren geschlossen wurde, weiß niemand. Damals wanderten die meisten Einwohner fort; zurück blieben die Bauernhöfe, Viehställe, Heuschober, die Heurigenlokale und ein paar Lebensmittelläden. Meine Mutter war Hausfrau, mein Vater arbeitete in der Nachbargemeinde als Bauleiter. Ich wurde ’62 geboren und verbrachte meine Kindheit in diesem Nest. Das alte Bergwerk war unser Spielplatz, die meisten Abenteuer trugen sich dort zu. Dann waren da noch die Traktorenhalle, wo wir uns als Jungen herumtrieben, die Gärtnerei, die stillgelegte Mühle, der alte Friedhof, der Wald am Fuß des Hohen Gschwendts und die Aulandschaft entlang der Trier. Mehr gab es nicht. Insgesamt eine trostlose Gegend für ein paar Jugendliche.«
    Sie verließen die Autobahn und nahmen die Bundesstraße Richtung Rosaliengebirge. Die Straße wurde unmerklich steiler, und weit und breit war kein anderes Fahrzeug zu sehen. Nebel zog auf. Der Nieselregen tippelte gegen die Scheibe, und die Wischblätter hinterließen einen schmierigen Film auf dem Glas.
    »Es war im September, drei Tage vor meinem vierzehnten Geburtstag, an einem ähnlich kalten, nebeligen Tag wie heute. In jenem September ’76 brannte unser Haus vollständig nieder. Ich saß bis zum Abend vor den verkohlten Grundmauern, doch Vater und Mutter kamen nicht mehr aus den Flammen.«
    Berger räusperte sich. Mit einem Mal schien sie nicht mehr so interessiert. Was hatte sie erwartet? Etwa einen lustigen Bericht aus seiner unbeschwerten Kindheit? Berger brachte nicht einmal das obligatorische Tut-mir-Leid hervor, das an dieser Stelle für gewöhnlich kam, und Körner war dankbar dafür. Schweigen war besser als oberflächliches Gerede. Zumindest hatte er es die letzten siebenundzwanzig Jahre so gehandhabt. Er wusste auch nicht, weshalb er seiner Kollegin das alles erzählte. Ausgerechnet ihr, die er zwar schon seit drei Wochen kannte, aber die so distanziert war, dass sie sich noch immer förmlich mit Sie ansprachen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass Berger die Erste war, mit der er über die Ereignisse von damals gesprochen hatte. Warum nur? Befreite es ihn? Fühlte er sich erleichtert? Oder legte die Fahrt nach Grein alles frei?
    Seine rechte Hand lag auf dem Lenkrad. Er bemerkte, wie sie auf seinen Handrücken starrte. Die Ärmel von Pullover und Sakko waren heruntergerutscht, und das rosafarbene Narbengewebe war bis zum Gelenk sichtbar, ohne Haare, nur ein Strang aus Knoten und Falten.
    »Eine Erinnerung an den Brand«, sagte er knapp.
    »Entschuldigen Sie bitte.« Sie wandte den Blick ab.
    »Schon gut. Der gesamte Arm sieht schlimm aus, besser Sie bekommen ihn nie zu sehen.« Er kniff die Augen für einen Moment zusammen. »Ich wollte meine Mutter aus den Flammen retten. Sinnloser Versuch, aber probieren Sie das mal einem Vierzehnjährigen beizubringen.«
    Wenn er die Augen schloss, sah er noch heute das Feuer. Aber die Flammen waren nicht rot oder gelb, wie man es kannte - sie waren weiß! Noch heute spürte er die Hitze auf seinem Gesicht, die Glut auf den Wangen und den Lippen, roch den Gestank verbrannter Haare und versengter Haut, hörte das Knacken der Holzmöbel und das Schmelzen des Kunststoffbodens.
    Da wurde die Scheibe vom roten Schein zweier Bremslichter ausgefüllt.
    »Achtung!«
    Körner riss das Lenkrad herum. Reifen quietschten.
    Berger saß steif wie ein Brett im Sitz. Ihre Rechte umklammerte den
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