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40 Stunden

40 Stunden

Titel: 40 Stunden
Autoren: Kathrin Lange
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Prolog
    Dunkelheit. Wie ein Tuch hüllt sie ihn ein, umschlingt seinen Oberkörper, seine Hüften, Beine und Arme. Er glaubt sogar, sie auf der nackten Haut zu spüren.
    Nackte Haut?
    Der Gedanke rüttelt an den Grundfesten seines Verstandes. Warum ist er nackt? Diese Frage schneidet durch die Finsternis in seinem Geist und zieht andere nach sich. Seine Arme. Warum kann er sie nicht bewegen? Und warum reagieren die Muskeln an seinen Seiten mit einem Beben, wenn er es versucht? Etwas drückt von unten gegen seine Fußsohlen. Rau fühlt es sich an, wie grob bearbeitetes Holz. Feine Splitter bohren sich in sein Fleisch.
    Er hat keine Schmerzen.
    Das Zittern seiner Muskeln, die Splitter in der Haut– es sind nur vage Eindrücke. Jede Empfindung ist so zweidimensional wie ein Schattentheater.
    Er beendet die zwecklosen Versuche, sich zu rühren, und konzentriert sich stattdessen auf seine Augenlider. Er ist sicher, sie angehoben zu haben, aber die Finsternis will nicht weichen. Also kneift er die Lider zusammen. Und öffnet sie wieder. Seine Wimpern sind verklebt, doch er schafft es, sie voneinander zu lösen. Die Dunkelheit ist nicht fort, aber nun schimmert ein schwaches Licht in ihr auf. Ein Funke am Ende des Tunnels. Ein verschwommenes Rechteck aus Grau.
    Wo bin ich?
    Diese Frage irrlichtert durch seinen Geist, versinkt jedoch gleich wieder in den Tiefen seiner Verwirrung.
    Er blinzelt. Einmal. Irgendetwas läuft ihm in die Augen. Er blinzelt nochmals. Seine Augäpfel fühlen sich in ihren Höhlen an wie Steine. Beim dritten Blinzeln erkennt er, dass das graue Rechteck vor ihm eine offenstehende Tür ist. Gleichzeitig setzt auch sein Gleichgewichtssinn ein. Aber das, was er nun empfindet, widerspricht allem, was er erwartet hat. Er ist doch aus einer Ohnmacht erwacht, oder nicht? Warum liegt er dann nicht, wie es normal gewesen wäre? Er befindet sich in der Senkrechten. Nochkann sein Verstand ihm keine Erklärung dafür geben.
    Also wartet er.
    Sein Schädel fühlt sich an, als sei er mit Watte gefüllt, trotzdem schälen sich langsam weitere Wahrnehmungen heraus. Ein stetiges Piepsen. Ein regelmäßiger Rhythmus. Er hebt den Kopf, der ihm nach vorne auf die Brust gesunken ist. Und auf einmal kommen die Schmerzen.
    Zuerst sind sie dumpf und fern. Ein gleichmäßiges Brennen in Händen und Füßen, das mit nichts vergleichbar ist, was er je zuvor erlitten hat.
    Ein Zittern rinnt durch seinen Körper. Ein Schluchzen hängt in seiner Kehle, als er endlich zu begreifen beginnt, was geschehen ist. Noch einmal blinzelt er. Kneift die Augen diesmal so fest zusammen, wie es geht. Reißt sie wieder auf. Und dann klärt sich sein Blick: Vor ihm ist eine Wand. Graue Fliesen, offenbar uralt. Die offene Tür. Fahles Licht strömt herein, doch er kann nicht erkennen, was sich dahinter befindet.
    Er wendet den Kopf nach rechts, schaut an seinem eigenen ausgestreckten Arm entlang. Etwas Rotes erscheint in seinem Blickfeld, und er hat keine Ahnung, was es sein mag. Dann erblickt er seine Hand. Verkrümmt ragt sie in die Luft, eine Klaue, jeder Muskel angespannt.
    Das Zittern seines Körpers wird stärker.
    Er blickt in die andere Richtung. Dieselbe grausige Szenerie: ein lang ausgestreckter Arm, dieses rote Ding, das er jetzt undeutlich als ein Seil erkennt, das seinen Oberarm umspannt. Die gekrümmten Finger, und in der Mitte der Handfläche wie ein Schmuckstück– das Eisengrau eines Gegenstandes. Nein!, will sein Verstand kreischen, doch er hindert ihn daran.
    Er wirft den Kopf zurück. Sein Schädel stößt gegen etwas Hartes. Er schaut an sich hinunter. Sein Leib ist ebenso langgestreckt wie seine Arme. Sein erster Eindruck hat ihn nicht getrogen: Er ist tatsächlich fast nackt. Nur ein Tuch ist um seine Hüften geschlungen, mehr nicht. Eine Gänsehaut bedeckt seine bloße Brust, und rote Rinnsale laufen darüber. Helle Flecken tanzen vor seinen Augen, und er hält sie für Sinnestäuschungen. Und dann entdeckt er noch etwas.
    Wie gebannt klebt sein Blick an einem dritten eisengrauen Ding. Jenem, das aus seinen übereinandergelegten Füßen ragt.
    Das nervenzehrende Piepsen hallt in seinen Ohren wider. Ein Tropf hängt seitlich neben seinem Gesicht, der Schlauch kitzelt ihn an der Wange. Und nun begreift er auch, was das Piepsen zu bedeuten hat. Es kommt von einem Herzmonitor. Wenn er den Hals so weit wie möglich verrenkt, kann er ihn sehen. Die hellen Flecken auf seiner Brust! Sie sind keine Sinnestäuschung. Es sind die
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