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40 Stunden

40 Stunden

Titel: 40 Stunden
Autoren: Kathrin Lange
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gehüllt zu werden. Mit Mühe nur riss er sich aus der Erinnerung, die über ihn hinwegbrandete. Er öffnete wieder die Augen und gehorchte dem Befehl des Anrufers. Mit steifen Schritten ging er auf die Treppe zu. Ein Mann im Anzug und mit Aktenkoffer in der Hand überholte ihn und rempelte ihn unsanft an. Faris hörte seine hastig gemurmelte Entschuldigung kaum.
    » Gut!«, kommentierte der Mann am Telefon, als Faris auf dem Weg in die Tiefe war.
    Auf dem unteren Bahnsteig schlängelte er sich durch die Menge und stieg die Rolltreppe wieder nach oben. Dort angekommen, fiel sein Blick auf die Betonmauer, die früher mit einer grellbunten Dschungelszene bemalt gewesen war, jetzt jedoch von der fast comicartig anmutenden Darstellung eines Kirchenchores geziert wurde. Die in hellen Violetttönen gehaltene Gestaltung des neuen Gemäldes passte so überhaupt nicht zu der gelblich-grünen Farbe des restlichen Bahnhofs.
    Dutzende von Menschen standen auf dem Bahnsteig herum und warteten darauf, dass der nächste Zug kam. Etliche Büroangestellte auf dem Weg zur Arbeit waren darunter, aber mindestens ebenso viele Kirchentagsbesucher, die gut an ihren regenbogenfarbigen Schals zu erkennen waren. Zwei etwa dreißigjährige Frauen fielen Faris auf. Sie drängten sich dicht aneinander und wirkten verunsichert. Der Grund dafür schienen fünf junge Männer zu sein, deren Aussehen auf eine durchzechte Nacht deutete. Sie drückten sich vor einem düsteren Plakat herum, das ein Death-Metal-Festival bewarb, und warfen immer wieder schräge Blicke auf die Frauen. Faris registrierte die Basecaps der fünf, ihre in den Kniekehlen hängenden Hosen und vor allem die Tatsache, dass sie allesamt ihre Hände in den Taschen verbargen.
    Bevor Faris sich über die Absichten der Kerle klar werden konnte, begannen auf dem Bahnsteig gegenüber ein paar Menschen ein Kirchenlied zu singen. » Jesus, meine Zuversicht«, hörte Faris. Den Rest bekam er nicht mit, denn nun meldete sich der Anrufer wieder zu Wort.
    » Wusstest du«, sagte seine verzerrte Stimme versonnen, » dass dies nicht der erste ökumenische Kirchentag ist? Zwei hat es schon gegeben, einen davon sogar in Berlin. Aber dieser hier ist etwas Besonderes, nicht wahr? Zum ersten Mal dürfen Katholiken und Protestanten gemeinsam das Abendmahl abhalten. Was für ein Wunder, Faris, findest du nicht?«
    » Wenn Sie es sagen.« Faris’ Blick fiel auf eines der ebenfalls regenbogenfarbenen Kirchentagsplakate, mit denen seit Wochen ganz Berlin gepflastert war. Den Bibelspruch darauf kannte er inzwischen auswendig– wie vermutlich jeder Stadtbewohner, der des Lesens mächtig war.
    » Das Plakat«, sagte der Anrufer und bewies damit, dass er Faris immer noch sehen konnte. » Findest du nicht auch, dass das Motto ein wenig sperrig ist?«
    Faris zwang sich zu einem Nicken. Möglichst unauffällig suchte er nach der Kamera und entdeckte sie rechts von sich in einer Nische unter der Decke. Sie hing direkt neben der auf alt getrimmten Bahnhofsuhr, deren Zifferblatt bläulich-weiß beleuchtet war. Es war eine gewöhnliche Überwachungskamera, wie sie in Berliner U-Bahnhöfen zu Dutzenden angebracht waren. Faris biss die Zähne zusammen. Der Mistkerl hatte das System der Verkehrsbetriebe gehackt.
    » Lies es!«, befahl der Mann.
    » Was?«, murmelte Faris verwirrt. Für einen Moment war er abgelenkt gewesen.
    » Das Plakat. Du sollst es vorlesen! Laut!«
    Faris’ Hand krampfte sich um das Mobiltelefon, doch er gehorchte auch diesmal. Mit flacher Stimme las er: » Das Wort Gottes mit Freimut reden.«
    Eine junge Frau im Businesskostüm, die soeben den Bahnsteig betreten hatte, starrte ihn misstrauisch an, aber als sie sah, dass er telefonierte, entspannte sie sich und lächelte ihm zu. Einer ihrer Schneidezähne stand ein wenig schief. Schöne neue Welt, dachte Faris. Niemand stört sich mehr daran, wenn die Menschen unsinniges Zeug vor sich hinmurmeln. Er blickte der Frau hinterher und fragte sich, wie er sie und all die anderen unauffällig dazu bringen konnte, die Station zu verlassen.
    » Kümmere dich nicht um sie!«, befahl der Anrufer. » Sie ist unwichtig. Weißt du, auf welchen Spruch aus der Bibel sich dieses Motto bezieht?«
    Faris lockerte seine verkrampften Muskeln. » Ich bin Muslim.«
    » Oh. Ich weiß, mein Lieber! Und ich weiß auch, dass du es nur noch auf dem Papier bist.« Ein leises Lachen drang aus dem Hörer. Durch die elektronische Verzerrung klang es wie das Summen eines
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