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Azrael

Azrael

Titel: Azrael
Autoren: Heather Killough-Walden
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Prolog
Im Jahre Null unserer Zeitrechnung …
    Der Erzengel Michael umfasste den Stein mit seiner rech ten Hand so fest, dass seine Finger Abdrücke im Gestein hinterließen und Azrael ein Knacken hörte. Mit zusammengebissenen Zähnen bekämpfte er den Schmerz, der durch seinen Körper schoss.
    Das wusste Az. Diese Qualen spürte er, als wären sie seine eigenen. Er hatte sie ja auch verursacht.
    So hoch im Norden waren die Wälder licht, und Az merkte, wie der Boden unter den Füßen seines Bruders kälter und härter zu werden schien, während die Kraft seinen übermenschlichen Körper verließ. Azraels Reißzähne waren tief in Michaels Hals vergraben. Mit jedem Schluck wurden die Schmerzen heftiger.
    »Az … das reicht«, stieß Michael mühsam hervor.
    Es tut mir leid, dachte Az. Die Worte sprach er nicht aus, aber er flüsterte sie ins Gehirn seines Bruders. Sie bekundeten echtes Bedauern, und trotzdem konnte er nicht aufhören, Michaels Blut zu trinken.
    Nicht zum ersten Mal, seit sie vor zwei Wochen auf die Erde gekommen waren, spürte Az die wachsende Angst seines Bruders. Bald würde Michael Gewalt anwenden, um ihn abzuwehren. Eine unvermeidliche Tragödie.
    Mit golden glühenden Augen unter halb geschlossenen Lidern beobachtete Az, wie sein Bruder den Stein, den seine Finger umklammerten, hob. Nachdem er ein weiteres Mal das Gesicht verzogen und vor Schmerzen gestöhnt hatte, schmetterte Michael ihn Azrael gegen die Schläfe. Das hatte Az vorausgesehen, den Gedanken seines Bruders mehrere Sekunden vor der Tat registriert, und dennoch hatte er nicht aufhören können zu saugen, weil er das Blut so dringend brauchte.
    Von dem Schlag wurde er zur Seite geschleudert, seine Zähne aus Michaels Hals gezerrt, in dem lange Risswunden entstanden. Taumelnd fing Az sich mit starken, aber zitternden Armen ab.
    Michael ließ den Stein fallen und presste eine Hand auf seinen Hals. »Az, es tut mir leid«, würgte er hervor. Auf einen Ellbogen gestützt, versuchte er, die Wunde zu schließen, die sein Bruder verschuldet hatte. Das war Michaels Talent: die Heilkraft.
    Und Azraels Talent? Die Fähigkeit, Schaden anzurichten. Anscheinend würde ihm niemals etwas anderes gelingen.
    Unter Michaels Handfläche bildeten sich Licht und Wärme und sandten heilsame Energie in die Wunde. Az beobachtete ihn schweigend, den Kopf gesenkt, sein langes schwarzes Haar verbarg seine Züge vor dem Blick seines Bruders.
    »Az?« Michael entfernte die Hand von seinem Hals. Offenbar war die Wunde geheilt.
    »Hör auf, Michael«, sagte Az, »ich kann es nicht ertragen.«
    Der blonde Erzengel schloss die Augen, als der überirdische Klang von Azraels Stimme in sein Gehirn und seinen Körper drang. Az las alle Gedanken seines Bruders, auch die oberflächlichen. Verzweifelt suchte er nach einem flüchtigen Wort oder Satz, nach irgendetwas, was ihn von der endlosen Tortur seiner neuen Existenz ablenken würde.
    Nun dachte Michael, dass Azrael eine wirklich schöne Stimme hatte.
    Beinahe hätte Az angefangen zu lachen. Schon immer hatte er eine unglaubliche Stimme besessen. Aber jetzt, seit er diese eigenartige, schreckliche irdische Gestalt angenommen hatte, klang seine Stimme intensiver denn je. Das musste er sich eingestehen. Er war ein Monster geworden – ein Monster mit einer ungewöhnlichen Stimme.
    Außerdem dachte Michael, er würde Verzweiflung aus dieser Stimme heraushören.
    Natürlich. Konnte es anders sein? Az war so verzweifelt wie kein Lebewesen je zuvor.
    Michael öffnete die Augen und betrachtete den zusammengekrümmten Körper seines Bruders. »Die Schmerzen, die du durchleidest, können nicht viel länger anhalten«, sagte er leise.
    »Ein einziger Moment länger ist zu lange«, flüsterte Az. Langsam und mühselig richtete er sich auf, um seinen Bruder mit seinem stechenden, unnatürlichen Blick zu beeinflussen. »Töte mich.«
    Michael wappnete sich gegen den Angriff und schüttelte den Kopf. »Niemals.«
    Warum Az überhaupt versuchte, das zu verlangen, wusste er selbst nicht. Wenn sich einer der vier Erzengel-Brüder hätte entschließen können, einen der anderen zu töten, so wäre es nicht Michael gewesen, sondern am ehesten Uriel, der Racheengel. Nur Uriel könnte seinen Verstand lange genug ausschalten, um zu dem tödlichen Schlag auszuholen, den Az ersehnte.
    Aber Uriel war nicht bei ihnen. So wie ihren anderen Bruder, Gabriel, hatte ihn der rasante Sturz zur Erde irgendwohin verschlagen. Die vier Erzengel waren
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