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Der Judas-Schrein

Der Judas-Schrein

Titel: Der Judas-Schrein
Autoren: Andreas Gruber
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ähnliche Szenen abgespielt haben. Körner verdrängte die Erinnerung.
    Er bemerkte die junge Frau im blauen Parka, die am Geländer Halt suchend von der Rampe über die geschwungene Treppe zur Straße lief. Er blinkte sie mit der Lichthupe an. Sie schlug den Kragen auf, zog die Schultern hoch und rannte zwischen den Pfützen auf ihn zu. Er öffnete ihr die Tür. Prustend ließ sie sich in den Sitz fallen.
    »Guten Morgen.« Sie zog den Zipp des Parkas auf, schüttelte das blonde Haar aus und wischte sich das Wasser aus dem Gesicht. »Herrliches Herbstwetter. Der Regen schmeckt nach Blei.«
    Dr. Sonja Berger hatte vor Jahren die Ausbildung zur Kriminalpsychologin abgeschlossen. Seit Körner vor drei Wochen zum Chefinspektor ernannt worden war, arbeitete sie in seinem Team, aber wegen seines Missgeschicks war sie gestern angeschossen worden - zum ersten Mal in ihrer Laufbahn.
    Körner wusste, dass sie neben dem Job bei der Kripo Vorlesungen an der Uni Wien hielt und gelegentlich Artikel für die Fachpresse schrieb. Ihre Aufgabe war die Erstellung psychologischer Täterprofile - und das machte sie nicht schlecht, auch wenn sie sich für seinen Geschmack zu intensiv in die Arbeit steigerte. Kretschmers Meinung nach war sie mit ihren dreißig Jahren zu jung und hatte bisher zu wenige verstümmelte Leichen gesehen, um genauso zynisch zu werden wie all die anderen Beamten auf dem Revier. Körner hoffte, dass es so weit nicht zu kommen brauchte und sie ihren frischen Elan behielt. Doch er fürchtete, dass sich ihr Enthusiasmus bald einbremsen würde, wenn sie erkannte, dass die kriminalpolizeiliche Ermittlung kein spannendes Spiel sondern eine traurige Notwendigkeit war. Wie die meisten ihrer älteren Kolleginnen würde sie die Konsequenz ziehen: den Unterricht als Uni-Dozentin reduzieren und ihren Schwerpunkt auf die Arbeit bei der Kripo verlagern. Dann war sie eine von ihnen: aus der Spur geraten, verbittert und paranoid. Er hoffte, dass es nicht ausgerechnet dieser Fall war, der ihr das Genick brach. »Was haben Sie?«
    »Nichts.« Er schüttelte den Kopf. Ihr sonst so perfektes Makeup war in den Augenwinkeln verschmiert und ihr schulterlanges Haar auch nicht so schick und flott gestylt wie sonst. Sie machte den Eindruck, als habe sie sich die Nacht im Krankenhaus um die Ohren geschlagen. Der blitzblaue, erfrischende Glanz ihrer Augen, den er so mochte, war einem erschöpften Blick gewichen. Sie lächelte ihn müde an. Er lächelte zurück und sah flüchtig auf das zerfetzte Schulterteil ihres Parkas. Der Stoff war aufgerissen und das Futter versengt. Offensichtlich war sie über Nacht wirklich nicht zu Hause gewesen. »Wie geht es Ihnen?«
    Sie verzog das Gesicht. »Es ist halb so schlimm. Nur ein Streifschuss. Die haben die Wundränder gereinigt und vernäht. Nach zwei Tagen kann ich den Verband runternehmen und ein Duschpflaster draufkleben.«
    Sie hielt ein schmales Lederetui hoch, das sie in der Jackentasche verschwinden ließ.
    »Es pocht höllisch.« Sie drückte eine schmerzstillende Pastille aus einem Tablettenstreifen und schluckte das Mittel. »Die Fäden kommen in acht Tagen raus.«
    Körner setzte den Blinker, scherte aus der Parklücke und reihte sich in den morgendlichen Verkehr ein. »Es tut mir Leid.«
    »Machen Sie sich keine Gedanken, ich hab es überlebt. Es ist eine neue Erfahrung, angeschossen zu werden, vielleicht schreibe ich einen Artikel darüber.« Sie versuchte zu lächeln, doch dann wurde sie ernst. »Ich habe für nächste Woche Montag eine gerichtliche Vorladung. Ich werde nicht gegen Sie aussagen, ich wollte nur, dass Sie das wissen. Meiner Meinung nach haben Sie richtig gehandelt.«
    »Danke.« Süßholzgeraspel, das ihm nichts brachte! Es würden sich andere finden, um gegen ihn auszusagen. Wenigstens eine seiner Kolleginnen fand es richtig, was er getan hatte. Ob es das Gericht auch für richtig halten würde, dass er dem Geiselnehmer die Kehle zertrümmert hatte? Er sah die Schlagzeile der Boulevardpresse bereits vor sich: Chefinspektor Körner stellte den mutmaßlichen Mörder und führte die Verhandlung mit entsicherter Dienstwaffe. Als der Geiselnehmer das Feuer eröffnete, überwältigte der Kripobeamte den Täter mit bloßen Händen. Für einige im Team kam diese Maßnahme zu spät…
    Körner griff auf den Rücksitz und legte Berger eine braune Tüte in den Schoß. »Cappuccino und Nusskipferl«, sagte er.
    Sie riss die Packung auf und stellte die Papptassen in die Becherhalter
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