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Der Judas-Schrein

Der Judas-Schrein

Titel: Der Judas-Schrein
Autoren: Andreas Gruber
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mittlerweile aufgesprungen waren, er würde sich nicht darauf einlassen, von der Flasche zu nippen. Er musste wach und bei klarem Verstand bleiben.
    Die Bodenklappe schnappte zu. Wieder war im Spion jenes Auge mit den langen Wimpern zu sehen. Die Pupille musterte ihn neugierig. Er konnte die Fragen nur zu deutlich erahnen, die sich in der Iris spiegelten. Immer wieder die gleichen neugierigen Fragen, warum er die Maschine zerstört hatte, wie der Mechanismus ausgesehen hatte, ob er den Judas-Schrein gesehen und was sich darin verborgen hatte. Er wusste es nicht, er konnte sich nicht mehr daran erinnern. Es war reiner Selbstschutz. Sein Geist blockierte den Zugang zu seinen Erinnerungen, verdrängte das Erlebte. Zudem wollte er sich nicht mehr daran erinnern, was er in den vergangenen Tagen durchgemacht hatte. Er wollte es verdrängen, alles vergessen … als sei es einer anderen Person geschehen.
    Deutlich war die Frage in den Augen der Frau zu lesen: Wovor fürchtete er sich? Die Wahrheit war: Er fürchtete sich vor allem! Zu viele waren darin verstrickt. Nahezu alle, die ihn im Moment umgaben, wussten davon. Möglich, dass das Greiner Wesen vollständig im Ölteppich verbrannt war, doch es gab andere, viel Größere, Gewaltigere. Die Getiere waren hier, sie lebten, existierten überall um ihn herum. Sie witterten ihn, krochen in den Wänden auf und ab, lauerten im Verborgenen und warteten auf jenen Moment, in dem er die Augen schloss. Er erinnerte sich an die zerknitterte Zeichnung der Reporterin, an die aufgerissenen Augen des Mädchens, an das Eisengestell mit den Flaschenzügen. Auf dem Papier, das sie ihm gegeben hatten, malte er ähnliche Bilder, hastige Kritzeleien mit Ölkreiden. Jetzt kannte er die Wahrheit… selbst der Messdiener hatte nicht das gesamte Ausmaß der Tragödie begriffen. In Grein war nicht die einzige derartige Maschine gebaut worden. Es gab mehrere Maschinen, die fremde Kreaturen in diese Welt holten. Die Wesen schlummerten in der Erde, das Gezücht der Schwarzen Ziege war überall, ihre Tausend Jungen verbreiteten sich wie eine Seuche über das Land, und hin und wieder kam es zu Zwischenfällen, die vertuscht wurden.
    Die Augen fielen ihm einen Moment lang zu, doch im nächsten Augenblick schreckte er wieder hoch. Beinahe wären seine Beine eingesackt. Er wusste mit jeder Faser seines Körpers, dass es zu Ende ging. Er hielt nicht mehr lange durch, war todmüde und würde bald zusammenbrechen. Der nächste Schub erfasste ihn: Seine Arme zitterten, kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn. Aber er wusste, wenn er sich hinsetzte, war es endgültig vorbei, man hätte ihn zum Schweigen gebracht und die Wahrheit wäre endgültig begraben.
    Während er in dieser Zelle wie ein Tier gehalten wurde, lebte seine Tochter vielleicht schon bei ihren Verwandten in Grein. Heute wurde sie vierzehn. Mittlerweile war es bestimmt sechs Uhr morgens geworden. In wenigen Stunden würden ihr die Lederriemen um die Handgelenke gelegt und an das Eisengestell gebunden werden. In wenigen Stunden würde sie zwölf Milligramm Valium gegen die Schmerzen gespritzt bekommen. Nicht vom Dorfarzt, denn der war tot, sondern von jemand anderem. Sie war noch so jung, erst vierzehn, ihr Körper so schmächtig. Sie war doch noch ein Kind, viel zu klein, um die Visionen des Getiers zu ertragen, ohne dabei den Verstand zu verlieren. Warum taten sie ihr das an?
    Er schrie und tobte, brüllte sich die Seele aus dem Leib. Seine Fäuste hämmerten gegen die Tür, bis sich die Mullbinden seiner bandagierten Hand mit Blut tränkten und schmierige Spuren hinterließen.
    Er wusste, manchmal siegte das Böse. Vor Erschöpfung taumelte er durch den Raum, brach auf alle Viere zusammen und kauerte sich in die Ecke. Plötzlich war etwas anders, diese Stellung war so ungewohnt. Während eines klaren Moments dachte er noch, dass er sich, bevor er in der Ecke einschlafen würde, mit der spitzen Kante des Bleigeschosses eine allerletzte Wunde zufügen und sich die Pulsadern der Länge nach aufschneiden musste. Er setzte die Kante ans Handgelenk, doch der Talisman entglitt seinen kraftlosen Fingern. Seine Lider flackerten, ihm fielen die Augen zu.
    Sein Rücken lehnte an der Wand.
    Etwas bewegte sich in der Mauer.

Danksagung
     
    Für Ideen und hilfreiche Kommentare zum Expose möchte ich mich bei Andreas und Susanne Link, Günter und Magdalena Suda und Barbara und Jürgen Pichler bedanken. Weiters danke ich meinem Verleger Frank Festa für seine
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