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Der Judas-Schrein

Der Judas-Schrein

Titel: Der Judas-Schrein
Autoren: Andreas Gruber
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sich aufs Dach. Das Mädchen schlug mit den Knien auf die Schindeln.
    »Rauf zum Schornstein!«, befahl er ihr. Er schob sie vor sich her. Mit den nassen Turnschuhen glitt sie immer wieder aus, krabbelte aber auf allen Vieren weiter. Körner war ihr dicht auf den Fersen. Er klammerte sich an ein Drahtseil, mit dem die Satellitenschüssel verankert war. Mit der anderen Hand schob er Verena zum Dachfirst hinauf. Ständig rutschten ihr die Füße weg, aber auch er fürchtete permanent, den Halt zu verlieren.
    Das Drahtseil schnitt in seine Hand. »Schneller!«
    Verena zappelte, als seien sämtliche Teufel hinter ihr her. Sie stolperte bis zum Schornstein, wo sie zusammenbrach. Hinter sich hörte Körner ein Schmatzen im Wasser, doch als er sich umdrehte, sah er nur ein Kräuseln der Wellen. Erst jetzt merkte er, dass sich das Satellitengestänge vollkommen verbogen hatte. Da löste sich eines der Seile aus der Verankerung, worauf das Gestänge ruckartig nachgab. Der Draht schnitt wie eine Klinge durch Körners Handballen. Das Fleisch klaffte auf, die rosafarbene Wunde füllte sich mit Blut. Die Hand unter die Achsel geklemmt, arbeitete er sich auf die Knie und stieg mit zittrigen Beinen zu Verena empor.
    Zusammengekrümmt wie ein Fötus, mit geschlossenen Augen, hockte sie auf dem Dachfirst. Ihre Haare waren verfilzt, der Pullover hing ihr schwer und wassertriefend am Leib. Keuchend setzte sich Körner neben Verena auf die Schindeln. Er lehnte sich an den Schornstein, nahm seine Tochter in den Arm, spürte ihren leisen Atem, während er ihr mit der gesunden Hand durchs Haar strich.
    »Was hast du dir dabei gedacht?«, presste er hervor.
    Durch die nasse Mähne, die ihr in Strähnen in die Stirn hing, wirkte sie viel erwachsener, als sie tatsächlich war. »Ich wollte doch nur …«
    Da kam ihm eine Idee. »Rauchst du noch?«
    Erstaunt riss sie die Augen auf. »Nein - hab ich nie!«
    Doch am Ausdruck ihrer Augen merkte er, dass sie log. »Gib mir dein Feuerzeug!«
    »Ich habe keines … was ist mit deiner Hand?«
    »Gib mir dein Feuerzeug!«
    Sie kramte in den Taschen ihrer Jeans, worauf sie ein silbernes Zippo herauszog, ähnlich dem von Jana Sabriski, nur dass es schwerer wog und deutlich größer war.
    »Dafür brauchtest du einen Waffenschein!« Das Zippo war vollkommen nass. Körner ließ es aufschnappen, schüttelte es aus und hauchte hinein, damit der Feuerstein trocknete. Er drehte am Zündrad. Zweimal hustete das Zippo, beim dritten Versuch schoss eine Flamme hervor. Körner wich zurück.
    Verena sah ihn mit geweiteten Augen an. »Seit wann zündest du ein Feuer an?«
    »In den letzten Tagen hat sich vieles geändert.« Er hätte es selbst nicht für möglich gehalten, aber die Flammen waren in dieser kurzen Zeit bereits zweimal zu seinem Verbündeten geworden. Mit etwas Glück würde es ein drittes Mal klappen. Er kniff die Augen zusammen und reckte die Nase in den Wind.
    »Was tust du?«
    »Schscht!«, zischte er. Als der Wind für einen Moment nachließ, beruhigte sich die flackernde Flamme des Feuerzeugs. Körner ging in die Hocke und warf das brennende Zippo knapp über der Wasseroberfläche auf den Ölteppich vor dem Pumpwagen.
    »Papa!«, rief Verena entsetzt.
    »Runter!« Körner hielt ihren Kopf nach unten und duckte sich ebenfalls.
    Das Zischen und Prasseln breitete sich explosionsartig aus. Geblendet schloss Körner die Augen. Er spürte die Hitze in seinem Gesicht. Die Flammen rasten förmlich über das Wasser, züngelten in gelben und blauen Farben über die Wellen und schlugen meterhoch empor. Im gesamten überfluteten Dorfplatz leuchtete das Feuer auf der Wasseroberfläche. Zischend verdampfte der Nieselregen in der Hitze.
    »Das war ein Pumpwagen!«, keuchte Verena.
    »Ich weiß, bleib unten!«
    Unmittelbar darauf detonierte das Fahrzeug. Der Wagen wurde von einer unterseeischen Wucht aus dem Wasser gehoben und verursachte eine Flutwelle, die sich an den Häuserwänden brach. Eine gigantische Stichflamme schoss in den Himmel, wo sie sich in eine schwarze, pilzförmige Rauchwolke verwandelte. Glassplitter prasselten um Körner herum ins Wasser. Wie winzige Meteoriten schlugen sie in das lichterlohe Feuermeer. Bald sah Körner nichts mehr außer Flammen, die rund um ihn in den grauen Himmel züngelten, als brenne der gesamte Ort mit Ausnahme des Daches, auf dem sie standen.
    »Verrecke!«, brüllte Körner.
    Der Messdiener hatte die Wahrheit herausgefunden. Das Wesen fürchtete das Feuer - ebenso
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