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Der Goldkocher

Der Goldkocher

Titel: Der Goldkocher
Autoren: Roland Adloff
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sich. Sie waren ganz außer Atem, als sie von einer Anhöhe hinunter zum Richtplatz sahen:
    Niemals zuvor hatte Lips eine solche Menschenmenge gesehen. Wieder brandete ein »Ahh!« und »Ohhh!« auf, dann auch Jubelrufe. Viele tausend Menschen standen dichtgedrängt um die hohe Schaubühne, die rundum von Soldaten gesichert wurde. Zwischen den Menschen saßen vornehme Herren auf ihren Pferden, und wohl an die hundert Kutschen mussten es sein, aus denen Damen lehnten und dem Schauspiel zusahen, wie der Scharfrichter mit großer Geste das Richtschwert hochhielt, breitbeinig seinen Stand prüfte und probehalber einen Streich andeutete.
    Auf der Schaubühne war ein Sandhügel aufgeschüttet, auf dem noch ein Inquisit im weißen Büßerhemd kniete und auf den Todesstreich wartete. Die Augen hatte man ihn mit einem Tuch verbunden. Neben ihm stand ein Geistlicher, der beide Arme zum Himmel reckte. In einer Hand hielt er ein Buch. Die Menschen verstummten. Erwartungsvolle Stille lag über dem Platz, ein Mann hob ein quengelndes Mädchen auf die Schulter.
    Lips konnte aus der Ferne nicht erkennen, ob es der Vater war. Ein hoher Haufen Leichname, so konnte er sehen, lag schon da mit heruntergeschlagenen Köpfen. Den Haupträuber würde sich der Scharfrichter zuletzt vornehmen. Lips ließ Anna stehen und preschte durch das Unterholz hinunter, drängte und schlug sich durch die dichte Menschenmenge. Die Gaffer standen auf den Zehenspitzen und machten ein breites Kreuz, als er vorbeidrängen wollte. Lips kämpfte sich zu einem Mehlwagen mit mannshohen Rädern vor, auf dem Schaulustige standen. Einen Augenblick lang gelang es ihm, sich auf die Speichen eines Rades zu stellen. Er reckte sich und sah, wie ein Pfarrer dem letzten Inquisiten die Augenbinde wieder abnahm und dieser etwas zu den Menschen rief. Der Vater! Es musste der Vater sein!
    »Zwei Groschen!«, verlangte jemand oben auf dem Mehlwagen, dann wurde Lips hinuntergestoßen. Er konnte in dem aufgepeitschten Lachen und Rufen der Menge nichts verstehen und drängte weiter nach vorne. Plötzlich wieder von vorne ein »Ahh!« und »Ohh!«, aus einer Kutsche drang vergnügtes Weiberkreischen. Lips reckte sich an einem Mann vorbei, der keinen Schritt weichen wollte, und sah für einen Augenblick, wie der Scharfrichter einen Kopf am Schopf hochhielt. Die Menschen vorne jubelten und stießen Freudenschreie aus. Wie im Taumel kämpfte Lips sich weiter vor. Die Menschen sahen hoch in die schweren Regenwolken. Als einige schwere Tropfen fielen, drehten die Ersten um. Plötzlich blitzte es, und gleich darauf folgte ein Donnerschlag. Schirme wurden aufgespannt, und auch Reiter und Kutschen drängten zurück in die Stadt. Die Menschen liefen. Einige Stöße trafen ihn, er kam nicht mehr gegen den Menschenstrom an, wurde weggedrängt und ließ sich treiben.
    Irgendwann kehrte er zurück zur Anhöhe, wo er Anna zurückgelassen hatte. Sie hatte sich dort an einem Felsvorsprung verborgen, der etwas Schutz vor dem Regen gab. Sie blieben dort, bis die Letzten vom Richtplatz verschwunden waren. Dann fasste Lips nach Annas Hand und wollte mit ihr hinuntergehen, aber sie schüttelte energisch den Kopf und krallte sich an einen blattlosen Strauch.
    Mit zögerndem Schritt näherte er sich dem Richtplatz. Den Leichnamen der Gerichteten hatte der Scharfrichter nach der Enthauptung mit dem Rad die Knochen zertrümmert, die verschränkten Arme und Beine auf Räder geflochten und an langen Stangen aufgestellt. Oben auf den Stangen waren die Köpfe der Inquisiten festgenagelt worden. Lips ging so nahe heran, bis er das entstellte Gesicht des Vaters erkennen konnte, dann drehte er um.
    »Der Vater«, sagte Lips nur. Er saß regungslos neben Anna und schaute hinunter. Anna nahm seine Hand und rieb sie an ihrer Wange. Irgendwann drückte sie ihn zurück auf den Waldboden. Sie streichelte sein Gesicht und schmiegte sich an ihn. Sie nahm seine Hand, führte sie unter ihr Kleid und ließ ihn ihre warmen Brüste fühlen. Lips schloss die Augen und ließ es mit sich geschehen. Er roch ihren Atem von saurem Apfel und spürte die Wärme ihres Schoßes. Er ließ die Augen geschlossen und stöhnte auf, als es aus ihm herausdrängte. Anna legte ihren Kopf auf seine Schulter und weinte mit ihm. Irgendwann fielen die ersten Regentropfen, und ein kalter Wind böte auf. Anna wischte sich die Regentropfen aus dem Gesicht und wies hoch in die Wolken.
    »Nein, warte noch«, sagte Lips.
    Anna machte ein Zeichen, dass sie
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