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Der Goldkocher

Der Goldkocher

Titel: Der Goldkocher
Autoren: Roland Adloff
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sein, und damit hatte sie gemeint, wäre alles Grausame entschuldigt. Lips musste an Pfarrer Porstmann denken, der ihn so missbraucht hatte, aber Recht hatte er gehabt, als er davon sprach, dass manche Menschen ganz vom bösen Wesen beherrscht würden. Man könne sie nur der irdischen Gerechtigkeit überlassen. Der Vater war vom Bösen beherrscht.
    »Hörst du nicht?«, zischte der Vater. »Träumst wieder, was? Gib mir noch eine Pille!«
    Lips steckte ihm eine Opiumpille in den Mund und hielt ihm den Krug hin. Lips sah in die stieren, hasserfüllten Augen – es war der gleiche Blick, den der Vater gehabt hatte, als er den wehrlosen, wimmernden Safrans-Georg mit dem Brecheisen gestoßen hatte. Mit diesen Augen hatte der Vater auch auf Lips hinuntergesehen, als er ihm mit der Gürtelschnalle das Gesicht zerfurcht hatte. Wie oft hatte er diese Augen gesehen, und wie hatte er sich vor ihnen gefürchtet!
    In dem Augenblick wusste Lips, dass der Vater sterben musste.
    »Schluss jetzt!«, rief der Kerkermeister. »Schnell! Der Pfarrer ist an der Trinkstube! Komm schon!«
    In der Tür drehte Lips sich noch einmal um. Er nickte für sich, dann ging er.

46
    Anna hatte vor dem Schwarzen Tor auf ihn gewartet, wo Lips sie zurückgelassen hatte. Sie sah ihn fragend an, als er hoch in die Wolken schaute. Er war unschlüssig und wusste nicht, wohin. Nur nicht zurück, sagte er sich. Über Nacht verbargen sie sich in der Vorstadt in einer Scheune. Wie ein kleiner Junge rollte er sich zusammen. Er starrte ins Dunkel, hörte Annas Atem zu und wartete sehnsüchtig auf das erste Tageslicht.
    Am nächsten Morgen nahm er Anna an die Hand und suchte die Straße, die die Elbe weiter hochführte. Ein sonniger Herbsttag kündigte sich an. Nur nicht zurück, sagte er sich immer wieder. Sie kamen am Richtplatz vorbei, wo Zimmerleute an einer riesigen Schaubühne arbeiteten und probehalber etliche Stangen mit Rädern aufstellten. Es musste eine große Zahl Banditen gerichtet werden. Jetzt war es zu spät. Lips wandte seinen Blick ab und zog mit Anna weiter. Nur nicht zurück! Die Füße waren bleiern, als wollten sie ihn nicht forttragen.
    Heerscharen von Menschen strömten ihnen entgegen. Aus dem erwartungsvollen Gejohle hörte er heraus, dass die Menschen auf dem Weg zum Richtplatz vor Dresden waren. Gegen Mittag kamen sie durch ein Dorf, das fast verwaist wirkte und vielleicht gute Gelegenheit zum Einsteigen bot. Lips überlegte, einen Bogen zu schlagen und durch einen angrenzenden Wald zurückzukommen, da sah er einen Jungen, der mit einem vollen Teller in den Händen aus einem Haus trat. Der blickte auf und lächelte Lips fragend an, dann ging er vorsichtig um eine Hausecke. Nach einigen Schritten sah Lips den Jungen. Im Schatten eines Baumes saß er bei einem Mann und fütterte ihn. Dem Mann hing die Lippe herunter, als wäre er vom Schlagfluss gerührt. Der Junge wischte die Breipampe, die dem Kranken wieder aus dem Mund quoll, mit dem Löffel ab. Ihre Gesichter hatten eine große Ähnlichkeit wie Vater und Sohn.
    Plötzlich blitzten Bilder auf: Lips sah sich mit dem Teller vor Arnolds Tür stehen; Arnold öffnete nicht, und Lips konnte auch nichts hören; dann sah er den Vater, der in Eisen gezwängt regungslos auf dem Boden saß; Lips hockte sich zum Vater; er reichte ihm die Opiumpillen, gab ihm zu trinken und wischte ihm das Ungeziefer aus dem Gesicht. Er sah den Vater, der auf dem Henkerskarren zum Richtplatz gefahren wurde und ihn in der Menschenmenge suchte…
    Anna zog an seinem Arm. Der Junge hatte sich zu ihnen umgedreht und sah misstrauisch zu ihnen herüber. Eine Frau trat mit einer Mistgabel in der Hand aus einer Stalltür und kam auf sie zu. Anna versuchte Lips wegzuziehen – weiter den Weg die Elbe hoch. Er stand wie versteinert da und sah zu dem Vater und seinem Sohn. Die Frau rief etwas und hob warnend die Mistgabel. Anna zog an seiner Hand und wimmerte etwas.
    Da riss Lips sie weg. Er zog Anna hinter sich her und hetzte mit ihr den Weg zurück. Sie liefen, als müssten sie mit den Regenwolken Schritt halten, die sich in der Ferne wie eine Wand über die Berge näher schoben. Anna stolperte und wollte sitzen bleiben. Lips riss sie hoch und zog sie, um den Weg abzukürzen, quer über die Äcker und abgeernteten Kornfelder. Weiter, immer weiter.
    Da hörten sie ein Raunen von vielen tausend Menschen gleichzeitig aufwogen, wie damals beim Feuerwerk zur Königskrönung. Sie liefen durch ein Wäldchen, dann lichtete es
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