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Canale Mussolini

Canale Mussolini

Titel: Canale Mussolini
Autoren: Pennacchi Antonio
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I
    D er Hunger. Der Hunger war’s, weshalb wir hierhergekommen sind. Warum denn sonst? Wäre der Hunger nicht gewesen, wir wären dortgeblieben. Das war unser Zuhause. Warum sollten wir hierherkommen? Dort waren wir schon seit jeher, und dort waren all unsere Verwandten. Wir kannten jeden Winkel des Orts und jeden Gedanken unserer Nachbarn. Jede Pflanze. Jeden Kanal. Was hätte uns dazu bringen sollen, hierherzukommen?
    Man hat uns verjagt, was sonst? Mit dem Besenstiel. Der Graf Zorzi Vila. Er hat uns ausgeraubt. Hat uns alles weggenommen. Unser Vieh. Die Kälber. Die Kühe mit so prallen Eutern. Sie haben ja keine Vorstellung, wie viel Milch die gaben. Mit einem einzigen Spritzer machten die den Eimer voll. Man hatte kaum die Zeit, sich auf den Schemel zu setzen und das Euter ein bisschen zu streicheln, rührte man dann bloß an die Zitze, da ging auch schon ein Strahl los, dass der Eimer gleich voll war. Man musste ihn gut zwischen den Beinen festhalten, damit er nicht umkippte.
    Was ist, Sie lachen? Sie glauben das nicht? Das hätte ich Ihnen aber zeigen wollen!
    Und die Ochsen? Wir hatten da gewisse Ochsen, wenn die im Gespann den Pflug zogen – ein Caterpillar war nichts dagegen.
    Was ist, Sie lachen schon wieder?
    Auf die Schultern lupften sie sich die Pflüge, diese Ochsen, auf ihre Hörner. Sie zermalmten sie zwischen den Zähnen. Sie haben wirklich keine Vorstellung, das schwöre ich Ihnen, ein ganzes Gut pflügten wir Ihnen an einem Tag um, dort oben, mit einem Paar von unseren Ochsen. Und Knall auf Fall hat der Graf Zorzi Vila es uns weggenommen. Hat es zu seinem eigenen gemacht, unser Vieh. Bis aufs letzte Hemd hat er uns ausgezogen. Und damals – als man uns das Vieh wegnahm, nachdem man uns hinausgeworfen hatte –, da ist Onkel Adelchi hinauf ins Haus und dann auf den Speicher gerannt und hat in der Dachschräge hinter einem losen Ziegel die Pistole von Onkel Pericle hervorgeholt. Schreiend und schießend kam er wie ein Verrückter auf die Tenne herunter. Und der Verwalter rannte davon. Alle rannten davon. Aber hüpfend und springend versuchte der Verwalter sich hinter den anderen zu verstecken, denn auf ihn hatte Onkel Adelchi es abgesehen. »Ich bring dich um!«, schrie er dem Verwalter zu: »Wo steckst du, ich bring dich um!« Und Großmutter – die Einzige, die nicht davonrannte, außer den Tieren natürlich, die mit einem Schlag mitten im Hof stehengeblieben waren, schon zum Abführen aufgereiht, sie begriffen auf einmal gar nichts mehr, die Ärmsten, und käuten wieder – Großmutter allein ging auf ihren Sohn zu, der um sich schoss: »Delchín, beruhig dich, Delchín.«
    Und Onkel Adelchi verschoss die letzten Patronen und blieb stehen mit der Pistole in der Hand, sah sie an, fast als wollte er sie fragen, warum. Dann fiel er seiner Mutter um den Hals und weinte wie ein Kind. Und Großmutter sagte »Delchín, Delchín«, und beide knieten mitten auf der Tenne nieder und jammerten, während die anderen wieder zurückkehrten und sich um sie scharten.
    Auch der Verwalter kam wieder zurück, während der Graf Zorzi Vila ihm stumm mit der Hand Zeichen machte, er solle wegbleiben. Bis die Carabinieri kamen. Und so fanden die Carabinieri sie, mitten auf der Tenne kniend und meinen Onkel, der weinte. Sie legten ihm Ketten an und versuchten, ihn wegzuziehen, und im selben Augenblick brüllte der Graf Zorzi Vila wieder los, schrie mit dem üblichen Hochmut seinen Verwalter an: »Vorwärts! Worauf warten wir noch?«, und der zog die Ketten der Tiere an, und gemeinsam brachen sie auf, Onkel Adelchi mit den Carabinieri und unser Vieh mit den Leuten der Zorzi Vila.
    Wie meinen Sie? Dass Sie ihn sich so überhaupt nicht vorstellen können, Onkel Adelchi, außer sich vor Wut und wie verrückt um sich schießend, um schließlich in den Armen seiner Mutter in Tränen auszubrechen? Dass Sie ihn groß und kerzengerade in Erinnerung haben, eine Respektsperson in seiner Polizistenuniform?
    Aber das kam später, viel später, und dann, wir in unserer Familie neigen zu Wutausbrüchen. Schließlich läuft einer ja nicht den lieben langen Tag herum und sagt zu den Leuten: »Wisst ihr, ich neige zu Wutausbrüchen.« Man trägt das in sich, gut verborgen in einem Winkel seiner Seele, und womöglich kommt es nie zum Vorschein. Dann aber eines Tages, wenn man am wenigsten damit rechnet, da trifft es einen an einer empfindlichen Stelle, eben in diesem Winkel der Seele, dann bricht die Wut hervor und übermannt einen,
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