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Der Glasmaler und die Hure

Der Glasmaler und die Hure

Titel: Der Glasmaler und die Hure
Autoren: Michael Wilcke
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haben. Meine Menschenkenntnis trügt mich nur selten. Rupert überträgt die Abneigung zwischen unseren Vätern auf uns. Wahrscheinlich wird er auch dich bald aufsuchen.«
    »Was könnte er von mir schon wollen? Buntglas und Bleistege?« Martin klopfte Sebastian auf den Rücken, und sie verließen die Galerie. Sebastian führte Martin die Treppe hinunter in den Kreuzgang, wo er ihn kurz allein ließ und in einer der Türen verschwand. Als er zurückkehrte, reichte er Martin einen Leinenbeutel, in dem sich ein Laib Schwarzbrot, mehrere Zwiebeln und vier Eier befanden.
    »Es stammt aus dem Vorratsraum der Domherren«, erklärte Sebastian mit einem Augenzwinkern. »Die himmlischen Mächte werden sicher nichts dagegen einzuwenden haben, wenn ich die Vorräte der immer noch recht wohlgenährten Prediger mit euch teile.«
    Ein Blick in den Beutel ließ Martin das Wasser im Mund zusammenlaufen. »Ich danke dir. In besseren Zeiten werde ich mich dafür mit einer großzügigen Spende erkenntlich zeigen.«
    Sebastian nickte und sagte, ohne daß es recht überzeugend klang: »Ja – in besseren Zeiten.« Er legte eine Hand auf Martins Schulter, drehte sich um und verschwand im Refektorium.
    Martin verließ den Dom mit gemischten Gefühlen. Zwar konnten seine Frau und er endlich wieder einmal satt werden, doch der Anblick der Schanzgräben und der mächtigen Belagerungsarmee lag ihm wie glühende Kohle im Magen.
    Er hatte nur wenige Schritte auf dem Domplatz zurückgelegt, als ein zerlumpter Knabe auf ihn zu humpelte, vor ihm auf die Knie fiel und flehend eine Hand ausstreckte. Der Bursche befand sich in einem jämmerlichen Zustand. Er war dreckig wie ein Schwein, das sich im Schlamm gewälzt hatte, und statt des rechten Ohres prangte an seinem Kopf eine braune Blutkruste. Sein linker, dick mit Stoff umwickelter Fuß behinderte ihn beim Gehen.
    »Eine barmherzige Gabe, Herr«, flehte der Knabe.
    Es widerstrebte Martin, das wenige, das er besaß, mit diesem Bettler zu teilen, doch im Grunde empfand er tiefes Mitleid mit dem geschundenen Jungen. Sein Blick wanderte zu den Huren am Brunnen, die sich inzwischen darum bemühten, zwei stämmige Landsknechte zu verführen, die ein gewisses Interesse an ihnen zeigten. Nur Thea wandte sich kurz um und schaute einen Moment lang in seine Richtung.
    Unter ihrem Blick fühlte Martin sich dazu verleitet, seine Mildtätigkeit zu beweisen. Er brach eine Kante des Brotes ab und beugte sich zu dem jungen Bettler hinunter. Als Martin ihm das Brot reichte, bemerkte er, daß sich die Aufmerksamkeit des Knaben nun auf etwas völlig anderes zurichten schien. Sein Medaillon, das er noch nicht wieder unter das Wams geschoben hatte, hing herab und funkelte in der Sonne. Die Augen des Bettlers ruhten einen Moment auf dem Anhänger, dann schnellte seine Hand hervor, griff nach dem Medaillon und riß die dünne Kette mit einem Ruck entzwei. Der Bursche sprang blitzartig auf die Füße und stieß Martin vor die Brust, so daß er ein paar Schritte zurücktaumelte und den Leinenbeutel fallen ließ. Ehe er recht begriff, was überhaupt vor sich ging, rannte der Bettler bereits in die nächste Gasse. Sein Klumpfuß und das Humpeln hatten also nur dazu gedient, um Mitleid zu erwecken, was ihm, wie Martin verbittert einsah, auch gelungen war.
    Martin machte eine Bewegung neben sich aus. Er erkannte Thea, die an ihm vorbei eilte und ebenfalls in die Gasse lief, in die der Dieb verschwunden war. Die übrigen Huren lachten gackernd und zeigten mit Fingern in seine Richtung.
    Martin überlegte, ob er Thea und den Dieb verfolgen sollte, aber er befürchtete, daß deren Vorsprung zu groß war, und gewiß hatten sie sich im Gewirr der Gassen bereits in ein Versteck geflüchtet.
    »Verdammte Brut!« fluchte Martin. Er hob den Beutel auf und stellte fest, daß zwei der Eier beim Sturz zerbrochen waren. Nahrung war in diesen Zeiten kostbarer als Gold und eine solche Verschwendung die größte aller Sünden.
    Doch weitaus mehr als dieser Verlust schmerzte ihn der Raub des Medaillons, und der Verlust erschien ihm wie ein böses Omen.
     
    Thea war es nicht gewohnt, so schnell zu laufen. Nach einigen hundert Metern setzte sie ihre Schritte langsamer und schnappte nach Luft. Es war nicht von Belang, daß sie Julius aus den Augen verlor, nachdem er Martin Fellingerdas Medaillon gestohlen hatte und weggerannt war. Sie wußte, wo sie ihn finden würde. Vor einigen Monaten war er auf dem Markt gefaßt worden, als er einen Korb mit
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